Erläuterungen zur Sitzung Nr. 109, 1. Legislaturperiode
In dieser Reichstagssitzung stellt der neue Reichskanzler Joseph Wirth sein Programm zur Erfüllung des
Londoner Ultimatums vor und bezieht Stellung zum Aufstand in Oberschlesien, das vom Deutschen Reich abgetrennt
worden war und zu diesem Zeitpunkt noch unter Völkerbundsmandat stand. Der Kern seiner Politik ist die Vermeidung
weiterer Konflikte mit den Siegermächten. Seine im Bund mit Walter Rathenau betriebene Politik ist auf Versöhnung
mit den ehemaligen Kriegsgegnern ausgerichtet. Mangelnde Bereitschaft zur Erfüllung der Entente-Forderungen und
außenpolitische Obstruktionspolitik, wie unter der Vorgängerregierung betrieben, hatte nur zu scharfen Repressalien
der Siegermächte geführt. Und so beschritten der Reichskanzler und sein zunächst Wiederaufbauminister und dann
Außenminister einen neuen Weg, der ihnen jedoch im wahrsten Sinne des Wortes die Totfeindschaft der Deutschnationalen
und Völkischen einbrachte.
Besonders brisantes Thema ist auch hier wieder die Lastenverteilung: Wer soll zur Begleichung der Kriegsschulden herangezogen werden?
Die Verschärfung des Verteilungskampfes zwischen den sozialen Schichten kündigt sich an. Besonders die Entente-Forderung einer 26zig-Prozent-Abgabe auf den Export
wird für die nächsten Monate für scharfe Polemik seitens der Deutschnationalen sorgen. Wirth plädiert dafür, daß ein Teil dieser variablen Abgabe
die Unternehmer selber tragen müssen, und die DNVP vertritt die Position, daß die Abgabe komplett aus Haushaltsmitteln
des Reiches bestritten werden soll. Dahinter steht der Gedanke, die Industrie als die letzte verbliebene Kraftquelle nicht weiter zu
belasten und den demokratischen Staat durch noch höhere finanzielle Lasten weiter zu destabilisieren.
Das Problem, das die Kommunisten hier direkt erkennen, ist, daß die dt. Industrie nun zu möglichst günstigen Gestehungskosten
produzieren und exportieren muß, um so einen Außenhandelsüberschuß zu erzielen, aus dem ein Teil der Reparationen bestritten werden kann.
Für die Arbeiter bedeutet dies hohe Arbeitsbelastung bei schlechter Entlohnung. Im Raum steht die Wiedereinfühung des gerade erst
abgeschafften 12-Stunden-Tags möglichst ohne Lohnausgleich (48 bis 60 Regelarbeitsstunden - und mehr - pro Woche!).
Sehen die Deutschnationalen in der Erfüllungspolitik einen Angriff auf die Substanz
der deutschen Wirtschaft, so befürchten die Kommunisten eine Verschärfung der Arbeitsbedingungen und
zunehmende Pauperisierung des Proletariats. Was ihnen jedoch auch das nötige Propagandamaterial liefern wird,
um die 1. Deutsche Republik als einen Sklavenhalterstaat zu diffamieren.
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