1. Reichstag, Weimarer Republik


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Hermann Reich, USPD

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Zwangsbewirtschaftung

Erläuterungen zur Sitzung Nr. 45, 1. Legislaturperiode

Hinter dieser Debatte verbirgt sich der Verteilungskampf. Die Bauern waren seit dem Krieg verpflichtet, Getreide in vorgeschriebener Menge und zu staatlich festgesetzten Preisen ("Zwangswirtschft")an staatliche Sammelstellen abzugeben. Etwa 50% der Ernte durften sie frei verkaufen. Der Abgeordnete Reich versucht zu belegen, daß diese Abgabequoten nicht eingehalten würden. Hinter der Debatte verbirgt sich der ideologisch geprägte Kampf um freie Marktwirtschaft (DVP) und Agrarprotektionismus (DNVP) gegen Gemeinwirtschaft (SPD) und Staatssozialismus, also Zentralwirtschaft (USPD). Zankapfel ist hier im besonderen die Reichsgetreidestelle in Berlin, von der die DNVP-Völkischen in agitatorischer Absicht behaupteten, sie sei in der Hand der "schachernden Juden" und deshalb käme es zu der Notlage in der Bevölkerung. Die DNVP insgesamt duldete oder unterstützte diese Agitation, weil sie die Reichsgetreidestelle aufgelöst sehen wollte. Sie schmälerte den Bauern die Erträge, die in Notzeiten, wie dieser, auf dem freien Markt ganz andere Preise erzielen konnten, besonders aber im Ausland.Viele Großagrarier hielten also die Erne zurück, um sie durch so genannte "Schieber" schwarz ins Ausland zu verkaufen, während die Bevölkerung in Deutschland Hunger lidt.
Die Argumentation seitens der USPD lautet auch hier: Nicht "die Juden" seien die Verursacher und Nutznießer des Elends, sondern die Agrarier, also die Klientel der DNVP. Zudem sahen die Sozialisten in diesen staatlichen Sammel- und Verteilbehörden, die es nicht nur auf dem Agrarsektor gab, die Möglichkeit, eine staatlich kontrollierte Wirtschaftsform zu entwickeln. Für die Sozialisten stand fest, daß der große Krieg mit all seinen in Millionen zählenden Toten, ein Produkt des Kapitalismus und Imperialismus gewesen sei. Deshalb müsse man zur Vermeidung solcher Katastrophen den Kapitalismus und somit auch das Konkurrenzdenken zwischen den Nationen zügeln bzw. beseitigen. Das Stichwort zu dieser Politik lautete bei der SPD: Sozialisierung. etwa der Schwer- und Schlüsselindustrie.
Die Rechte ihrerseits setzte zur Verteidigung und Durchsetzung ihrer Position - Agrarprotektionismus, gegen Lebensmittelsubventionen und Getreideverteilstellen- auf Antisemitismus, mit der Behauptung, die Juden hätten den Krieg angezettelt und dafür gesorgt, daß die Monarchien (Deutschland und Österreich) ihn zu Gunsten der Demokratien bzw. zu Gunsten des "jüdischen" Bolschewismus (Rußland) verloren hätten. Sie hätten maßgeblich Schuld an dem Elend und bereicherten sich zudem an den Getreidesammel- und Verteilstellen.
Die Sozialdemokraten brachten die Agitationsstrategie der Rechten bündig auf den Satz: Die Rechten beabsichtigten den Klassenkampf umzuwandeln in einen Rassenkampf, um so ihre Pfründe über die Zeit zu retten, indem sie von ihren Machenschaften durch Aufbau eines Sündenbocks oder Blitzableiters ablenkten wollten. Im Klartext heißt das aus der Sicht der USPD: Die Großgrundbesitzer füllen sich die Taschen und zeigen dabei auf die Juden mit dem Ausruf: "Haltet den Dieb", um so den Unmut der Bevölkerung von sich auf andere abzulenken.

Landwirtschaftsminister Hermes (Zentrum) vertrat entgegen der DNVP die Ansicht, daß staatlich kontrollierte Wirtschaft mit Zwangsabgaben immer zu Korruption und Unterlaufen der Abgabeverordnungen führe. Deshalb sei das Beste, diese Stellen mit und mit aufzulösen, jedoch solange als nötig noch zu belassen.

Abgeordneter Gerauer (Landwirt), Bayerische Volkspartei (BVP). Auch er, der spätere Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes, spielt in seiner Abwehr gegen die massiven Anschuldigungen Reichs, die antisemitische Karte aus, um den Unmut der Bevölkerung von den Bauern weg auf die Juden zu lenken.

Literaturhinweise