1. Reichstag, Weimarer Republi


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Ich will mich darauf beschränken,5 Ihnen im folgenden eine kurze, nüchterne Übersicht dessen zu geben, was Deutschland an ideellen und materiellen Werten durch die Entscheidung über Oberschlesien verlieren soll. Nach den Berechnungen des Statistischen Reichsamts betrug die Bevölkerung des Abstimmungsgebiets 2 073 507 Einwohner, von denen wir 980.296 Einwohner, oder 47,3 Prozent, verlieren sollen. Setzt man diese Ziffern in Vergleich mit denen des Abstimmungsergebnisses, das 62 Prozent deutsche und 38 polnische Stimmen ergab, so werden noch 9,3 Prozent mehr von der Bevölkerung von uns abgetrennt, als für Polen gestimmt hatten.

(Hört! Hört!)

Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß das Ergebnis der Abstimmung noch sehr viel günstiger für Deutschland gewesen wäre, wenn sich die Abstimmung in voller Ruhe und unter wirklichem Schutze abgespielt hätte,

(lebhafte Zustimmung)

und nicht, wie es in dem größten Teile der Kreise mit starkem polnischen Ergebnis gewesen ist, unter furchtbarem polnischen Terror.

(Sehr wahr!)

Mit dem abzutretenden Gebiet gehen uns große und blühende deutsche Städte verloren, die die Zentren deutscher Kultur in Oberschlesien bilden. Ich erwähne insbesondere die Stadt Kattowitz, die mit 85 Prozent aller abgegebenen Stimmen ihre Zugehörigkeit zum Deutschtum und damit zu Deutschland bekundet hat.

(Hört! Hört!)

Gegen 22.744 in Kattowitz abgegebene deutsche Stimmen standen nur 3500 polnische.

(Lebhafte Rufe; Hört! Hört!)

Ob es jemanden in der Welt gibt, der gegenüber diesem Abstimmungsergebnis sich in seinem Gewissen beruhigt fühlen könnte, das darf man wohl füglich bezweifeln.

(Lebhafte Zustimmung.)

Ich erwähne Königshütte, in dem 78 Prozent der abgegebenen Stimmen sich für das Verbleiben bei Deutschland ausgesprochen haben. Das Stimmungsergebnis betrug hier 31.864 deutsche gegen 10.764 polnische Stimmen.

(Hört! Hört!)

Wenn nun diese und andere deutsche Kulturzentren ohne jede Rücksichtnahme auf ihre Geschichte, auf ihre Bevölkerung, auf ihren vor der ganzen Welt laut bekundeten Willen von Deutschland abgetrennt werden, so muß jeder Glaube daran schwinden, daß heute Recht und Gerechtigkeit, daß insbesondere das Selbstbestimmungsrecht in den Beziehungen der Völker untereinander die ihnen zukommende Bedeutung haben.

(Lebhafte Zustimmung. - Sehr richtig! und Zurufe rechts.)

Die Grundlagen, auf denen Oberschlesien durch deutsche Tatkraft und deutsche Arbeit zu dem


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entwickelt wurde, was es ist, bilden seine Bodenschätze, unter denen die Kohle den ersten Platz einnimmt. Von den 61 betriebenen Steinkohlengruben fallen 49 ½ an Polen, so daß nur 11 ½ bei Deutschland bleiben. Von den 16 in Betrieb befindlichen Zink- und Bleierzgruben6 bleiben nur vier deutsch, so daß uns von der bisherigen Jahresförderung an Zink- und Bleierzen von 266.000 Tonnen in Zukunft nur 42.000 Tonnen bleiben. Wir verlieren so von der oberschlesischen Zinkförderung mindestens 85 Prozent, von der Bleiförderung 76 Prozent. Aber damit nicht genug, verlieren wir die Zink- und Bleihütten sämtlich an Polen. Ebenso die Blei- und Silberhütten. Allein an Silber geht dadurch der deutschen Wirtschaft eine Produktion von jährlich 3112 Kilogramm im Werte von 15 Millionen Mark verloren. Weiter: Von den 37 oberschlesischen Hochöfen fallen 22 an Polen, so daß von der bisherigen Jahresproduktion von 570.000 Tonnen nicht weniger als 400.000 der deutschen Wirtschaft entzogen werden. Diese neue schwere Infragestellung der deutschen Reparationsmöglichkeiten führen unsere Gegner in einem Augenblick herbei, in dem weite, zur Einsicht herangereifte Kreise unter den führenden Wirtschaftspolitikern der gesamten Welt die verhängnisvollen Folgen zu erkennen beginnen. Die größten Industrieländer der Welt haben unter dem Problem der Arbeitslosigkeit zu leiden, unter einer Erscheinung, deren direkter Zusammenhang mit der deutschen Reparationslast und Reparationsleistung und damit der Kaufkraft von niemand verkannt werden kann, der guten Willens ist und die Wirtschaft sich überhaupt anschaut. Ich fasse demnach unsere Stellung zur heutigen Lage folgendermaßen zusammen:7 Die deutsche Regierung erblickt in dem territorialen und wirtschaftlichen Diktat der Entente nicht allein eine Ungerechtigkeit gegen das deutsche Volk, der sie sich wehrlos gegenüber sieht, sondern auch eine Verletzung des Versailler Vertrags, dem die in Genf getroffene und von den alliierten Hauptmächten angenommene Entscheidung widerspricht. Die deutsche Regierung legt gegen den hierdurch geschaffenen Zustand als gegen eine Rechtsverletzung die feierliche Verwahrung ein, die das Völkerrecht als Schutz der Vergewaltigung kennt.

(Bravo! bei den Sozialdemokraten und Deutschen Demokraten.)

Lediglich durch die in der Note ausgesprochenen Drohungen und, um die der deutschen Bevölkerung des oberschlesischen Industriegebietes sonst bevorstehende Verelendung soweit wie möglich zu vermeiden, sieht sich die deutsche Regierung gezwungen, dem Diktat der Mächte entsprechend, die darin vorgesehenen Delegierten, ohne damit die Rechtsauffassung preiszugeben und einzuschränken, zu ernennen. Ich weiß sehr wohl, daß eine große Anzahl von Fragen, die dringend der Klärung und der Lösung bedürfen, heute in dieser Erklärung nicht berührt werden können. Die Ernährungsfragen unserem Volke, die Preissteigerungen, die notwendige Neuordnung der Bezüge der Beamten und Arbeiter, die Hilfe für die Kleinrentner, alle die Dinge müssen alsbald in Ihrer Mitte besprochen werden. Ich bitte,


6S. 4735C
7S. 4736A

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