1. Reichstag, Weimarerer Republik


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Reichstag. - 45. Sitzung. Freitag den 10. Dezember 1920

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ihrer Brust: auch wir haben ein Brosamen abgeworfen für die notleidenden, hungernden Kinder im Erzgebirge. Die Regierung hat damals erlaubt, daß hierzu extra die Polizeistunde überschritten werden durfte, mit der Begründung: weil der Überschuß den notleidenden Kindern überführt wird.

(Hört! Hört! bei der U.S.P. [Linke].)

Meine Damen und Herren! Unter der heutigen Regierung werden die Kartoffeln und das Getreide nach dem Ausland verschoben.6 So laufen jetzt täglich, wie von dem Hauptbetriebsrat der Eisenbahndirektion Dresden mitgeteilt wird, die Wagen von d en Rittergütern Oberschlesiens über Sagan - Kohlfurt - Schlauroth nach Bodenbach für die Tschecho-Slowakei. In Deutschland hungern und darben Tausende. Man sagt, wir könnten nicht genügend anbauen; und nichtsdestoweniger führt man jetzt noch Kartoffeln und auch Brotgetreide nach dem Auslande aus. Man sammelt jetzt für die notleidenden, hungernden und darbenden Kinder; aber trotzdem die Ärzte nicht in der Lage sind, für die Kinder die nötigen Ernährungsmittel zu verschreiben, hat man im Juli dieses Jahres noch 80.000 Kilogramm Malzextrakt nach dem Auslande verschoben. Die "Apothekerzeitung" weist darauf hin, daß die Apotheker nicht in der Lage seien, den an sie gestellten Ansprüchen gerecht zu werden und den unterernährten Kindern genügende Mengen dieses Nährproduktes anliefern zu können. Wie die Agrarier sich am Volk versündigen, in dem sie das Getreide zurückhalten, ist schon in aller Kürze hier angeführt worden. Wenn mein Vorredner gesagt hat, er glaube nicht daran, daß es festgestellt sei, daß in Ostpreußen heute noch Getreidemieten aus dem Jahre 1919 zurückgehalten werden,

(lebhafte Rufe: hört! hört! bei der U.S.P. [Linke])

so muß ich ihm antworten, daß es festgestellt ist, daß der tägliche Verbrauch bei weitem die tägliche Ablieferung übersteigt. In Baden wurde amtlich festgestellt, daß anstatt Getreide Tabak angebaut wird, obwohl Baden ein Zuschussbezirk ist. Vor allen Dingen wird auch in Schreiben an die Reichsgetreidestelle darauf hingewiesen, daß heute die Landwirte dazu übergehen, die Molkereien dazu zu benutzen, um ihr Getreide zu verstecken. Meine Damen und Herren! Ich könnte noch eine große Anzahl solcher Beweise hier vorbringen. Es ist hier von dem Abgeordneten Hertz auf die Ablieferungspflicht der Landwirte hingewiesen worden. In dieser Beziehung will ich, weil mein Vorredner erklärt hat, daß die Landwirte nicht die Kohlen bekommen, um das Getreide ausdreschen zu können, Ihnen die Statistik bekannt geben, wie viel Kohlen geliefert worden sind, und daß trotzdem die Großgrundbesitzer kein Getreide geliefert haben.

(Hört! Hört! bei der U.S.P. [Linke].)

Im Erntejahr 1919/20 betrug die Ablieferungspflicht an Brotgetreide für Lötzen 9000 Doppelzentner. Abgeliefert haben die Landwirte nur 1161 Doppelzentner. Im Jahre 1920/21 beträgt die Ablieferungspflicht 1000


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Doppelzentner; abgeliefert haben sie nur 100. Daßelbe Bild bieten Sensburg, Pyritz, Rummelsburg, Bütow, Liebenwerda und Schleswig. Ich will nur noch einen Bezirk herausgreifen, den Versicherungsverband Liegnitz. Dort sollten im Erntejahr 1919/20 31.890 Doppelzentner abgeliefert werden; abgeliefert wurden aber nur 21.500 Doppelzentner.

(Hört! Hört! bei der U.S.P. [Linke].)

In diesem Jahr sollten über 43.000 Doppelzentner abgeliefert werden, zur Ablieferung gelangten aber nur 2332.

(Hört! Hört!)

Auch davon können sich die Damen und Herren hier überzeugen. Nun ist bekannt, daß für eine Tonne Kohlen mindestens 11 Tonnen Getreide geliefert werden sollen. Im Regierungsbezirk Stettin hat Regenswalde 420 Tonnen Kohle bekommen., aber nur 31.163 Zentner Brotgetreide abgeliefert. Das Verhältnis stellt sich also wie 1:3,74. und zwar einschließlich der abgelieferten Gerste. In Demmin sind 1200 Tonnen Kohle geliefert worden, Brotgetreide ist dagegen überhaupt nicht abgeliefert worden.

(Hört! Hört! bei der U.S.P. [Linke].)

Ebenso ist es in Anklam, Uckermünde, während in Greifenhagen nur im Verhältnis 1:1,1 abgeliefert worden ist. In Randow, das ebenfalls annährend 900 Tonnen Kohle bekommen hat, wurde kein Gramm Brotgetreide dafür geliefert,

(Rufe von der U.S.P. [Linke]: Ungeheuerlich!)

und so kann die ganze Liste fortgesetzt werden.

(Erregte Rufe rechts: Unwahr!)

- Meine Herren, Sie mögen sagen, das sei unwahr. Die Wahrheit mag Ihnen eben unangenehm sein!

(Lachen und Zurufe rechts.)

Das ist ein Beweis, an dem sich nicht rütteln lässt, denn er stammt aus der Reichsgetreidestelle in Berlin selbst. Beweisen Sie mir das Gegenteil davon - ich werde Ihnen mit weiterem Material aufwarten.

(Andauernder Widerspruch und erregte Zurufe rechts.)

- Mein lieber Herr, ich arbeite seit Ende des Krieges spezi

ell in diesem Punkte des Ernährungswesens. Ich bin im Hamburger Versorgungsamt tätig und hatte Gelegenheit auch unter der Ära Robert Schmidt die ganze skandalöse Ernährungswirtschaft zu verfolgen.

(Sehr gut! Bei der U.S.P. [Linke]. Wiederholte Zurufe rechts.)

Da ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Ihr Verbrechen, das Sie schon während des Krieges und jetzt am deutschen Volke begehen, an den Pranger zu stellen, damit Sie nicht mehr mit Ihren Täuschungsmanövern durchkommen können., sondern daß wir dem Volke sagen, wo die wirklichen Schuldigen sitzen, die es schon während des Krieges belogen und betrogen haben und heute noch daßelbe tun. Wir werden Ihnen die Maske herunterreißen, Sie sollen dieses Parlament nicht als Kulisse benutzen, hinter der Sie Ihre Schieber- und Wuchergeschäfte weiter betreiben können. Die Großagrarier, die ihre Getreide zurückhalten, die Schlotjunker, zwingen den Minister, zwingen heute die Regierung diese Politik auf, und der Ernährungsminister horcht und tanzt gehorsam nach Ihrer Pfeife, während


6 S. 1594B

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