1. Reichstag, Weimarer Republik


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und Schaufenster zur Geltung komme. Es ist für uns unerträglich, untätig zuzusehen, wie gegenwärtig am Mark unseres Volkes gezehrt wird.

(sehr wahr! und Lachen bei den Sozialdemokraten und auf der äußersten Linken)

durch eine Schmutzliteratur - Sie werden es bald verlernen, "sehr wahr" zu rufen -, durch eine Schmutzliteratur, die das Gewissen unseres Volkes vergiftet. Es ist notwendig, daß durch unser Volk die Empfindung hindurchzieht: diese breiten Wellen des Schmutzes müssen zum Verderben unseres Volkes führen. Meine Damen und Herren! Was zum Verlust unseres Krieges geführt hat, war nicht so sehr die Front, sondern es war das Zermürbtsein in den Seelen; und so muß auch die Wiederaufrichtung von den Seelen ausgehen. 6

(Lebhafter Beifall bei den Deutschnationalen.)

Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wulle.

Wulle, Abgeordneter: 7 Meine Damen und Herren, wie im Ausland der sittliche Verfall Deutschlands beurteilt wird, beweist der Franzose Bonneson, der im "Echo de Paris" sich dahin geäußert hat - ich darf die Stelle mit Erlaubnis des Präsidenten verlesen -:

Dieses Volk ist verfault; es zerfällt in Fetzen und nährt sich nur noch vom Sadismus. Der größte Erfolg der Theatersaison ist ein Stück, in dem ein junger Arzt eine Frau liebt, die ihren Vater getötet hat. Das sind die Gemeinheiten, zu denen Reinhardt herruntergesunken ist, und es ist nicht eine Ausnahme. Alles ist im gleichen Geschmack. Der Plünderungskrieg und die Gewalttaten in Frankreich und Belgien haben dieses Volk von Parvenus entarten lassen, das schon vorher durch zu schnellen Reichtum verdorben war. Das deutsche Volk ist ohne Moral, ohne Zügel, Glauben und Gesetz. Es wäre längst reif für ein Budapester Regime, wenn zu allen Lastern, die es zernagen und entstellen, nicht auch ein totaler Mangel an physischem und moralischem Mut hinzukäme. Es ist ein Sterbender, der sich im Kote wälzt.

Er meint die Berliner Theater. Er meint dieses verfaulende Theaterleben hier in Berlin. Und dieses Berliner Theaterleben ist ausschlaggebend und maßgebend für die Provinz. Ich bin der allerletzte, meine sehr verehrten Damen und Herren, der hier etwa Prüderie usw. predigen will. Es handelt sich hier aber um etwas anderes. Es handelt sich um das Ansehen des deutschen Volkes.

(Zustimmung rechts.)

Es handelt sich hier um die Seele des deutschen Volkes. Es soll das Letzte, was wir noch haben, nachdem Sie uns alles zerschlagen haben, es soll die Sittlichkeit und die Reinheit dem deutschen Volke genommen werden. Lesen Sie doch einmal, was der so verdienstvolle Theaterkitiker der "Täglichen Rundschau", Erich Schlaikjer, in seinem Buche "Der Kampf gegen die Schande" festgenagelt hat,


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wie weit unser Theaterleben hier verfault ist. Lesen Sie doch einmal, wie der feststellt, er habe sich die Mühe gegeben, zu Weihnachten ein deutsches Theaterstück auf einer deutschen Bühne in Berlin zu sehen. Er hat kein einziges anständiges Stück gefunden, in das man mit seiner Frau und seiner Familie hineingehen kann.

(Hört! Hört! bei den Deutschnationalen.)

Schlaikjer hat das richtige Wort gesprochen: es war die reguläre rituelle Schächtung des deutschen Weihnachtsfestes.

(Zuruf bei den Vereinigten Kommunisten: Die Bourgeoisie ist eben zu verderbt! Die Arbeiter gehen in die Freie Volksbühne!)

- Erzählen Sie doch nicht solche Märchen! Glauben Sie denn, meine Herren von der Kommunistischen Partei, daß es in Ihren Reihen um ein Atom besser aussieht? Glauben Sie, daß zu den Theaterbesuchern nicht Ihre Anhänger gehören? Glauben Sie, daß unser armer deutscher nationaler Mittelstand noch in ein Theater gehen kann? Der kann das überhaupt nicht mehr bezahlen, weil er kein Geld hat! Vielleicht hat keiner ein vernichtenderes Urteil gefällt als ein Mann, der mir in keiner Hinsicht nahesteht, nämlich der jüdische Rechtsanwalt Max Epstein, der in der "Freien Deutschen Bühne" einen Aufsatz veröffentlicht hat, worin er klar und klipp erklärt, wie tief unser Theaterleben gesunken ist. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten möchte ich mir gestatten, einige Sätze daraus vorzulesen. Er sagt:

Früher war der Direktor durch die Billigung der Zensurbehörde gegen die Anklage, öffentliches Ärgernis zu geben, gesichert. Jetzt ist das Publikum versichert, fast kein Theater zu betreten, ohne daß es in sexuellen Fragen weiter aufgeklärt und angeregt wird. Unsere Direktoren verlangen ein handfestes, klares Bordell,

(hört! hört! bei den Deutschnationalen)

am besten im zweiten Akt. Wedekinds "Büchse der Pandora" bringt das Freudenhaus in allen Formen. Sein Ableger "Schloß Wetterstein" ist nicht kräftig genug und wird sich darum nicht durch mehrere Spielzeiten halten.

Ganz widerwärtig macht sich das Spiel mit geschlechtlichen Affären an den Bühnen des Herrn Dr. Altmann. Der Ruhm und der Kassenerfolg anderer Kollegen haben ihn wohl nicht schlafen lassen. Vielleicht hat er bei Übernahme des "Kleinen Schauspielhauses" gedacht, daß er dasselbe könne wie Reinhardt, der mit Wedekinds Pandorenbüchse ausverkaufte Häuser erzielte. Warum soll man da zurückstehen. Heutzutage will und muß jedes kleine Theater sein Bordellchen haben. Altmann leitet zwei Bühnen und braucht deshalb zwei Bordellchen.

In dieser Tonart stellt Max Epstein, der dem "Berliner Tageblatt" wesentlich näher steht als wir - Sie können es mir glauben -, fest, wie tief wir gesunken sind. Es ist auch sehr bezeichnend, wie gleich nach der Revolution mit einem Schlag von den Bühnen alle Stücke verschwanden, die irgendwie an das nationale Gewissen oder an das deutsche Gewissen appellierten,


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