1. Reichstag, Weimarer Republik


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sind. 4 ½ Kriegsjahre haben eine seelische Erschütterung in allen Ländern hervorgerufen, die jetzt einer Verständigung entgegenstehen. Wie sieht denn die Welt heute aus? 6 Frankreich steht vor dem finanziellen Abgrund. Ich weiß nicht, weshalb manchmal aus nationalen Kreisen heraus immer Einspruch dagegen erhoben wird, daß man das anerkennt. Es ist doch gar kein Zweifel, daß die internationale Situation nun wirklich nicht lediglich gekennzeichnet wird durch Tendenzen, die Deutschland schaden wollen, sondern tatsächlich durch die Situation, daß wir vor einem finanziell zerrütteten Frankreich stehen. Wir haben auf der anderen Seite das Deutsche Reich, das politisch und wirtschaftlich außerordentlich geschwächt ist und, wenn es nach den Wünschen französischer Politiker geht, bis zum Weißbluten geschwächt werden soll; etwa durch Teilung Oberschlesiens, durch Abtretung dortiger Industriegebiete. Wir sehen in England einen großen Streik, der beinahe zu einer Erschütterung auch des politischen Lebens geführt hätte; sehen die Lächerlichkeit, daß eine unter Führung Englands in Spa getroffene Regelung, die uns zur Lieferung von Kohlen nach Frankreich verpflichtet, dazu führt, daß das verbündete Frankreich England Konkurrenz macht und englische Kohlen keinen Absatz finden können und sich daraus soziale Krisen in England ergeben. Wir sehen das reiche Amerika, das eigentlich doch der große wirtschaftliche Gewinner des Weltkrieges sein müsste, in einer unendlichen Krisis. Wir erleben dort Falissements, Bankbrüche, von einer Größe und Ausdehnung, die man sich nie vorgestellt hätte. Kurzum, wohin Sie sehen, sehen Sie keinen Sieger, der glücklich ist, sondern sehen Sie nur verzweifelte Besiegte. Soll dieser Wahnsinn weitergehen oder soll man sich einmal vor Augen stellen, daß hier eine weltwirtschaftliche Verständigung im allgemeinen und eine deutsch-französische Verständigung im besonderen notwendig ist? Deshalb meine ich, sollten Sie nicht lächeln über einen Gedanken, der gestern ausgesprochen wurde mit den Worten, daß vielleicht einmal die Herren Loucheur, Schneider-Creusot, Stinnes und andere sich zusammensetzen sollten, um die Frage zu erörtern, ab vielleicht ein gemeinschaftliches Wirtschaftsinteresse beider Länder vorliegt, von denen das eine finanzielle am Boden liegt und finanzielle verbluten wird, wenn das andere nicht wirtschaftlich in die Höhe kommt, und zu untersuchen, wie dieses Problem zu lösen, ohne daß die französische Wirtschaftskraft selber darunter leidet. Es könnte dann vielleicht eine Verständigung zustande kommen, wie sie der jetzige Präsident Harding bei der Wahlbewegung in die Worte gekleidet hat: uns fehlt nicht ein politischer Völkerbund, sondern ein Weltclearinghaus, das wieder vernünftige Verhältnisse in der Welt schafft. Bei dem Zusammenhang der wirtschaftlichen Fragen und der politischen Fragen wird die Lösung jeder dieser Fragen doch immer wieder eine Etappe bedeuten auf dem Wege des weiteren Studiums des Problems einer solchen Verständigung, und es wird vielleicht, wenn die seelische Erschütterung, von der ich vorhin sprach, die jetzt durch die Welt gegangen ist,


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etwas nachgelassen hat, dahin kommen, daß man der Frage nähertritt, die heute manchem phantastisch und gigantisch erscheinen mag, ob nicht das große Problem der internationalen Valutaschwierigkeiten, der finanziellen Verelendung aller Länder nur dadurch zu lösen ist, daß man auf die Erzeugung der ganzen Welt eine Abgabe legt, vielleicht abgestuft in der Gradualität zwischen den Siegerstaaten und den Staaten, die den Krieg verloren haben und daß man das Erträgnis dieser Abgabe in eine internationale Kasse leitet, aus der zunächst einmal die Länder, die im Kriege am meisten gelitten haben und die ihren Anspruch am meisten geltend machen, befriedigt werden, bis diese Kasse allmählich in die Lage kommt, auch die anderen Länder, auch die Länder der besiegten Staaten zu der Gesundung ihrer Valutaverhältnisse zu führen, die wieder die Voraussetzung dafür ist, daß sie in gesunde Verhältnisse kommen. Wenn auf diese Weise, nicht, wie es französische Unvernunft will, Deutschland zum Träger gemacht wird für die Gesamtverpflichtung eines Weltkrieges, an dem alle Erdteile beteiligt waren, sondern die ganze Welt diese Aufgabe auf sich nimmt, dann wird Frankreich ruhiger schlafen können, als es schlafen kann, wenn es die Bedingungen durchsetzt, die es jetzt Deutschland auferlegen will. Meine Damen und Herren! Ich bin sehr genau darüber unterrichtet, daß in Frankreich zwei Strömungen miteinander kämpfen, die beide stark sind, obwohl wir in der Presse immer nur die ein hören. Das ist der Gegensatz der Wirtschaftler und der Politiker. Es gibt französische Politiker, die sich in eine Sackgasse verrannten in dem Augenblick, als sie glaubten, dieses ganze Problem ließe sich durch einen einzigen deutschen Scheck lösen; und sie kommen nun jetzt daraus nicht zurück. Wir wissen aber, daß französische Wirtschaftler, nicht nur die großen, sondern auch die kleinen, heute an deutsche Erzeuger herantreten und sie fragen, ob man nicht auf diesem und jenem Gebiet eine Interessengemeinschaft schließen könne, immer mit der Bemerken, es müsste das vorläufig noch französischen Anstrich haben, weil ihre öffentliche Meinung für etwas anderes noch nicht reif sei, aber immer mit dem Betonen: wir geben euch volle Gleichberechtigung, weil wir genau wissen, daß wir ohne ein Zusammengehen mit euch nicht mehr in die Höhe kommen. - Außer den Politikern, die sich verrannt haben, als sie glaubten, dem französischen Volk vorgaukeln zu können, daß es aus dem Kriege ohne schwere Belastung herauskomme, gibt es aber auch noch solche, die ganz andere Pläne im Auge haben, die gar nicht wünschen, daß diese Verhandlungen zum Erfolg führen, die mehr nach dem Rhein als nach unserem Gold sehen. Ich glaube, man kann ihnen gegenüber ein Wort anwenden, daß einmal ein türkischer Staatsmann gesprochen hat, als Konstantinopel vor der Gefahr stand, daß die Bulgaren es besetzten. Damals versammelte er die Mitglieder des diplomatischen Korps um sich und sagte Ihnen - es war der alte Kiamil Pascha -: sie möchten sich davor hüten, daß der Feind den Boden von Konstantinopel beträte, eher würden sie Konstantinopel an allen Ecken und Enden anzünden, ehe sie das gestatteten. Und als der junge französische Vertreter darüber lächelte, ging der alte Staatsmann zu ihm hin, legte die Hand auf seine Schultern und sagte zu ihm


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