1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 17. Sitzung. Dienstag den 3. August 1920.

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Klassenvorurteile preiszugeben und sich auf den Boden in diesem Falle des proletarischen Judentums zu stellen.

(Sehr gut! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Und ich glaube, das ist das Maßgebende, und nicht, ob der eine etwas mehr oder etwas weniger Geld in seinem Beutel hat. Und wenn endlich der Herr Angeordnete Mumm meint, daß diese Juden, die über die Ostgrenze kommen, irgendwie eine politische Gefahr für Deutschland darstellen könnten, so ist das ja eine alte Weisheit, die wir von jener Seite zu hören pflegen.

"Ausländer, Fremde sinds zumeist, Die unter uns gesät den Geist Der Rebellion..."

Ja, meine Damen und Herren, Sie machen es sich verhältnismäßig leicht, wenn Sie jede soziale Unruhe, wenn Sie jedes politische Missvergnügen zunächst einmal auf die Ausländer abschieben wollen und sagen: das deutsche Volk ist so gut und ist so brav, daß, wenn es nicht von Juden und anderen fremdstämmigen Elementen geführt würde, immer bereit wäre, unter das Joch und unter die Knute Ihrer Politik zu kriechen.

(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Wir brauchen die Juden nicht, um die revolutionären Gedanken in der Arbeiterschaft zu wecken und zu erhalten. So liegen die Dinge nicht, meine Damen und Herren! Dazu genügen die Deutschstämmigen durchaus.

(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Das ist nicht eine Frage der Rasse, jawohl, Herr Mumm, nicht eine Frage der Rasse, sondern das ist eine Frage der Klasse. Das ist eine Frage des sozialen Empfindens und des ist eine Frage des sozialen Verstehens. Nun, meine Damen und Herren, zum Schluß dann noch einen kleinen Exkurs auf das Gebiet der Theologie.12 Wir habe hier bezeichnender Weise gleich zwei Theologen das wahre Christentum verkünden hören. Den Abgeordneten Mumm und den Abgeordneten Korell. Wenn ich richtig unterrichtet bin, einen von der positiven Schule der Theologie und einen von der liberalen Richtung. Sie haben sich bei Ihren Ausführungen die Hand gereicht, und sind in diesem Falle zu demselben Resultat gekommen. Der Herr Abgeordnete Mumm hat mir und meinen Freunden allerdings die Aktivlegitimation bestritten, über christliche Fragen sich mit ihm zu unterhalten. O nein, verehrter Herr Mumm, in unseren Reihen sitzen sehr viele, ja, sitzt die Majorität, die aus dem Christentum hervorgegangen ist und die dem Christentum den Rücken gekehrt hat, weil sie in ihm keine Befriedigung fand, weil sie es nicht begriff und weil sie sich dagegen auflehnte, daß dieses Christentum in der Gestalt der Staatskirche zu einem Hort wirtschaftlicher und politischer Reaktion geworden ist.

(Zustimmung bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Urchristliche Gedanken, urchristliche und evangelische Gedanken sind in unseren Reihen vielleicht lebendiger als in Ihren.

(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)


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Und zu diesen urchristlichen Gedanken gehört in erster Linie der Gedanke und die Forderung der Gleichheit des enschentums und der Nächstenliebe.

(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Vizepräsident Dr. Bell: Das Wort zu einer persönlichen Bemerkung hat der Herr Abgeordnete v. Graefe.

v. Graefe, Abgeordneter:13 Der Herr Abgeordnete Dr. Breitscheid hat der Vermutung Ausdruck gegeben, daß ich vielleicht einmal zum Judentum übertreten oder, wie er hinzufügte, zurücktreten könnte. Ich vermute, daß er mit diesem Worte "Zurücktreten" hat Bezug nehmen wollen auf frühere Äußerungen in der Presse oder bei sonstigen Gelegenheiten, wonach mein Vater oder ich auch jüdischen Einschlag im Blute hätten. Ich nehme von Herrn Breitscheid von vornherein an, daß er die Richtigstellung dieser Äußerungen nicht gelesen hat. Was nun den "Übertritt" anbetrifft14 , so kann ich mir wohl vorstellen, daß man seine politische Haut sehr vielfach wechseln kann, darin hat ja Herr Dr. Breitscheid selbst geradezu eine Virtuosität bewiesen. -

(Große Heiterkeit.)

Ich muß doch sagen, was man nicht kann und was man kann. Dagegen muß ich die anthropologische Auffassung des Herrn Dr. Breitscheid bewundern, daß man seine Rasse wechseln kann. Angesichts dieser Unmöglichkeit wird ihm also nicht das Vergnügen bevorstehen, mich jemals als Juden vor sich zu sehen, ebenso wenig wie es mir möglich sein wird, ihn als wirklichen Zulukaffer vor mir zu sehen.

(Große Heiterkeit. - Zurufe von den Unabhängigen Sozialdemokraten: Oh!)

Vizepräsident Dr. Bell: Herr Abgeordneter v. Graefe, diese Bemerkung war zwar persönlich, aber nicht parlamentarisch. Das Wort zu einer persönlichen Bemerkung hat der Herr Abgeordnete Dr. Breitscheid.

Dr. Breitscheid, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! Ich stelle mit Bedauern fest, daß ich mich in der Rassenherkunft des Herrn Abgeordneten v Graefe geirrt habe. Ich nehme davon Kenntnis, daß in seinen und seiner Ahnen Adern - soviel ich weiß, lassen sie sich bis auf die Zeit der Kreuzzüge zurückführen -

(Heiterkeit links)

kein Tropfen jüdischen Blutes enthalten ist. Ich hätte ja meinerseits allerdings diesen Irrtum auch vorher einsehen können, denn in der Regel weisen Abkömmlinge des Judentums etwas mehr Geist auf als der Herr Abgeordnete Graefe.

(Sehr richtig! und Heiterkeit bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)


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