1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 17. Sitzung. Dienstag den 3. August 1920.

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17. Sitzung. [i]


Dienstag den 3. August 1920


Präsident Löbe: Die Sitzung ist eröffnet. Zu den Entschließungen hat das Wort der Herr Abgeordnete Dr. Rosenfeld.

Dr. Rosenfeld, Abgeordneter:1 Meine Damen und Herren! Der Staatsausschuß und das Plenum haben in der gestrigen Sitzung eine Resolution angenommen, gegen die meine Freunde entschieden Einspruch erheben müssen. In der Resolution wird die Reichsregierung ersucht:

daß der Masseneinwanderung fremdstämmiger Elemente, insbesondere über die Ostgrenze, gewehrt werde und diese gegebenenfalls entweder sofort über die Grenze zurückgebracht oder, wenn erforderlich, interniert werden sollen.

Meine Damen und Herren! Wir sind der Ansicht, daß das Problem der Einwanderung der Ostjuden ein viel zu ernstes Problem ist, um es mit polizeilichen Maßnahmen zu lösen. Auch wir sind der Meinung, daß Reformen auf diesem Gebiet eine Notwendigkeit sind, denn auch wir vertreten sicher nicht die Ansicht, irgendwelche Verbrecher zu schützen, die sich unter den aus dem Osten einwandernden Elementen befinden. Darüber wird es zwischen Ihnen und uns keine Meinungsverschiedenheit geben. Aber, meine Damen und Herren, viel wesentlicher, viel tiefgreifender ist das Problem: wie werden die Fragen gelöst, die mit der Einwanderung im allgemeinen zusammenhängen? Da genügt es nicht, nach der Polizei zu rufen und alles internieren zu lassen, sondern da muß geprüft werden, wie ist die inwanderung der Ostjuden zu erklären, wie ist sie entstanden und wer trägt dafür die Schuld? Wenn wir dieser Frage näher nachgehen, dann finden wir, daß die Einwanderung aus dem Osten im engsten Zusammenhang steht mit den Problemen, die während des Krieges bestanden und die daraus resultierten, daß es hier in Deutschland an Arbeitskräften fehlte, um das Hindenburgprogramm zur Durchführung zu bringen. Als es sich darum handelte, dieses Programm zu realisieren, war jeder Mann und Frau; alles, was arbeiten konnte, wurde von der Regierung in den Dienst des Hindenburgprogramms gestellt. Tausende und aber Tausende von Arbeitskräften wurden teils mit sanfter Gewalt, teils mit Zwang aus dem Osten herangeholt, um in der Munitionsindustrie zu arbeiten. Diese Männer und Frauen hatten wahrhaft Dank verdient und nicht die schikanöse Behandlung, der man sie jetzt aussetzen will. Es ist ja bekannt, daß diese Männer und Frauen teilweise sogar zwangsweise aus Polen entfernt worden und herübergebracht worden sind und,


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die man rief die Geister,die wird man nun nicht los. Meine Damen und Herren! Diese unglückseligen Menschen, die gezwungen ihre Heimat haben verlassen müssen, sind auch weiter durch die Zerstörung der polnischen Industrie durch unseren Staat in die äußerste Not versetzt. Wenn sie etwa zurück wollen nach Polen in die Textilindustrie von Lodz und in andere Industrien, dann stellt sich heraus, daß diese Industrien zerstört worden sind durch die deutsche Regierung, die Maschinen und Maschinenteile aus Polen nach Deutschland gebracht hat. Sie oftmals vor den Ruinen ihrer einstigen Arbeitsstätten stehen, da die deutsche Regierung während des Krieges veranlaßt hatte, diese zu zerstören. Die Maschinen aber wurden zuvor - genau wie diejenigen, die sie bedient haben - nach Deutschland gebracht hat.

(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Meine Damen und Herren! Angesichts dieser Erscheinung, daß also die Männer und Frauen, die aus Polen nach Deutschland teilweise zwangsweise gebracht worden sind, gar keine Möglichkeit haben, wieder nach Polen zurückzukehren, deshalb nicht, weil Deutschland eine solche Kriegsführung für richtig hielt, die die wirtschaftlichen Verhältnisse Polens zerstörte, so daß eine Rückkehr nicht möglich ist, angesichts dieser Umstände erscheint es ganz besonders hart und brutal, wenn nun derselbe Staat, der über die polnische Bevölkerung dieses Elend gebracht hat, jetzt mit Internierungsmaßnahmen vorgeht.

(Sehr richtig! Bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Es kommt aber noch weiter hinzu, daß, wenn diese Polen zurückkehren in ihre Heimat, sie dort mit besonderem Haß verfolgt werden, weil man die Vermutung hegt, daß sie die deutschen Okkupationsmächte unterstützt haben. Man hat diese polnischen Elemente entwurzelt und will sie nun hindern, an anderen Stellen Wurzeln zu fassen. Außerdem ist ja die Pogromstimmung im Osten hinreichend bekannt. Man bringt all diese Männer und Frauen, die man aus Deutschland wieder hinaustreiben will, in die äußerste Not, in die äußerste Bedrängnis. Meine Damen und Herren! Denken wir doch einmal dran, daß viele Ostjuden in Deutschland ein Asyl gesucht teilweise auch gefunden haben; und Sie, meine Herren von der Rechten, sollten auch einmal an das kleine holländische Volk denken, das Ihrem Kaiser das Asylrecht gewährt hat.2

Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie, auch noch zu bedenken, daß ein großer Teil der polnischen Juden gar nicht die Absicht hat, hier in Deutschland zu bleiben.

(Rufe rechts. Na! Na!)

Nein, der größte Teil von ihnen will nach Amerika, er kann aber Deutschland nicht verlassen, weil es zurzeit für eine große Zahl von Auswanderern einfach unmöglich ist, aus Deutschland hinauszugehen und in das gastlichere Amerika überzusiedeln. Wir sind der Auffassung, daß es auch eine große Übertreibung bedeutet, wenn man auf die in Deutschland befindlichen Juden hinweist und meint, daß ihre Zahl so groß sei, daß Maßnahmen gegen sie notwendig seien. Glauben Sie denn, daß 60 Millionen Deutsche wirklich


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