1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 379. Sitzung. Donnerstag den 9. August 1923

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379. Sitzung. [i]


Donnerstag den 9. August 1923

Erhebung eines Opfers für Rhein und Ruhr.1

Die Sitzung wird um 2 Uhr 19 Minuten durch den Präsidenten Löbe eröffnet.

Präsident: Die Sitzung ist eröffnet. In der Beratung hat das Wort der Herr Abgeordnete Müller (Franken).

Müller (Franken), Abgeordneter:2 Meine Damen und Herren! Die breiten Massen des deutschen Volkes sind heute in einer Not, wie sie in der meisten Zeit des Krieges nicht vorhanden war. Die Stimmung der Bevölkerung ist infolgedessen im unbesetzten und im besetzten Gebiet gleich erbittert. Es ist ganz bezeichnend, daß es bisher noch niemand gewagt hat, wie das sonst üblich ist, diese Erbitterung auf Verhetzung durch Agitation zurückzuführen,

(sehr wahr! bei den Vereinigten Sozialdemokraten)

daß damit also die objektiven Ursachen dieser Erregung eigentlich allseitig anerkannt werden. Sonst wäre es ja auch nicht möglich gewesen, daß am 27. Juli jener Alarmartikel in der "Germania" stand. Er war ja nur möglich, weil nicht nur in dieser Partei sondern weil auch in anderen Parteien dieselben Zeichen der Erregung sich aus Angestellten, Arbeiter- und Beamtenkreisen bemerkbar machten.

(Sehr richtig! bei den Vereinigten Soziademokraten.)

Der Herd der Unruhe liegt ja in jeder einzelnen Familie. Was soll denn die Frau eines Arbeiters, Beamten oder Angestellten heute mit den Scheinen machen, die sie auf den Markt mit bekommt,

(sehr wahr! bei den Vereinigten Sozialdemokraten)

mit den Scheinen mit den hohen Nullen, die der Volksmund längst Havenstein-Rubel getauft hat! Die Geldentwertung macht sich in immer steigendem Maße bemerkbar. Dazu kommt neuerdings noch ein Mangel an Zahlungsmitteln, der auch wieder nur möglich war, weil die Reichsbank jegliche Voraussicht hat vermissen lassen für das, was kommen musste,

(lebhafte Zustimmung bei den Vereinigten Sozialdemokraten.)

nach der Bank- und Steuerpolitik, die in den letzten Monaten getrieben worden ist. Das sind die Herde der Erregung. Die Ursachen der Erregung liegen tiefer, und ich werde auf die Ursachen im weiteren Verlauf meiner Rede noch zurückkommen. Aber wenn die Zustände so sind, so muß sich auch der Herr Reichskanzler darüber klar sein, daß Predigten über


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weniger Konsum, mehr Sparen und mehr Arbeiten absolut nichts nutzen,

(lebhafte Zustimmung bei den Vereinigten Sozialdemokraten.)

daß die Masse der Bevölkerung gerade in der jetzigen Stunde für solche Ermahnungen kein Verständnis hat. Mehr sparen! Wovon soll denn der Arbeiter eigentlich sparen? Soll er von den Papiermark sparen, die er jetzt bekommt, oder konnte er davor sparen? Meiner Damen und Herren!3 Ich will nicht allzu sehr in die Vergangenheit steigen. Aber ich muß doch, nachdem die Zustände sich so entwickelt haben, daran erinnern, daß wir rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht haben, daß die völlige Freigabe der Lebensmittelversorgung zu solchen Zuständen führen müßte.

(Sehr wahr! bei den Vereinigten Sozialdemokraten.)

Alles, was bisher gesagt worden ist als Appell an die Landwirtschaft, hat nichts gefruchtet. Wir haben im vorigen Jahre eine Kartoffelernte gehabt, die eine Rekordernte gewesen ist. Wo sind die Kartoffeln hin? Sie sind verfüttert und verfuselt worden.

(Zustimmung bei den Vereinigten Sozialdemokraten.)

Aber sie sind nicht dagewesen in dem Augenblick, wo sie für die Bevölkerung gebraucht wurden. Man spricht davon - und mit einem gewissen Recht -, daß dieser Ruhrkampf als ein Krieg zu bewerten ist. Aber, meine Damen und Herren, Sie mußten sich eben dann darüber klar sein, wenn das ein Krieg ist, auch in bezug auf die Innenpolitik diejenigen Maßnahmen getroffen werden müßten, die eben im Augenblick getroffen werden müssen,

(sehr richtig! bei den Vereinigten Sozialdemokraten)

und daß man nicht erst sechs Monate ins Land gehen lassen kann, ehe es zu solchen Maßnahmen kam. Es ist die höchste Zeit, daß hier Besserung kommt. Denn sonst werden Sie erleben, daß die Front in diesem Kampfe verhungert, daß das Hinterland verhungert und daß eine allgemeine Zermürbung der Bevölkerung eintritt.

(Zustimmung bei den Vereinigten Sozialdemokraten.)

Der Egoismus derjenigen, die es heute noch für gegeben halten, sich auf die Ware zu setzen, ist fürchterlich. Der Eigennutz feiert Orgien, und wenn die Bevölkerung sich helfen will, dann erleben wir erbauliche Zustände. Soviel im voraus also über die Herde der Unruhe, die in den weitesten Kreisen der Bevölkerung vorhanden ist. Daß auch unsere ganze Finanzgebarung eine große Schuld hat, braucht in einzelnen nach den Zahlen, die wir auch amtlich gestern gehört haben, kaum auseinandergesetzt zu werden. Ich brauche nur daran zu erinnern, daß der Lebenshaltungsindex vom Mai ab von 3.816 auf 149.531 am Schluß der Vorwoche gestiegen ist, und daß in der vorigen Woche eine Verdopplung dieses Index stattgefunden hat. Es muß deshalb festgestellt werden, daß an dem Elend, unter dem wir leiden, nicht nur der Ruhreinbruch schuld ist, sondern auch die Finanzierung oder vielmehr die Nichtfinanzierung des Kampfes, der an der Ruhr durchgefochten werden muß und der zur Folge hat, daß nach den Zahlen, die uns der Reichskanzler gestern gegeben hat, nicht weniger als 69,6 Billionen


3 S.11764C

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