1. Reichstag, Weimarer Republik


Zurück zu RT-Übersicht oder Zurück zur Homepage


Reichstag. - 103. Sitzung. Dienstag den 10. Mai 1921.

Seite 86

A B

103. Sitzung. [i]


Dienstag den 10. Mai 1921


Die Sitzung wird am 8 Uhr 55 Minuten abends durch den Präsidenten Löbe eröffnet.1

Präsident: Geehrte Abgeordnete! Der Reichstag hat sich versammelt, um eine Entscheidung von unabsehbarer Tragweite zu fällen. Indem ich die Sitzung eröffne, gebe ich dem Wunsche Ausdruck, daß unsere Verhandlungen von dem Ernste getragen sein möge, den die geschichtliche Stunde uns allen gebietet.

(Zustimmung.)

Ein Verzeichnis der eingegangenen Vorlagen der Reichsregierung bitte ich den Herrn Schriftführer zu verlesen.

Schriftführer Abgeordneter Beuermann: Erklärung der Alliierten vom 5. Mai 1921, betreffend Erfüllung des Vertrages von Versailles, Zahlungsplan für die gesamte Reparationsverpflichtung, Protokoll der Alliierten vom 5. Mai 1921
Präsident: Wir treten in die Tagesordnung ein. Einziger Gegenstand ist die Entgegennahme einer Erklärung der neuen Reichsregierung. Das Wort hat der Herr Reichskanzler Dr. Wirth.

Dr. Wirth, Reichskanzler: Meine Damen und Herren! Der Herr Reichspräsident hat mich ersucht, die Kabinettsbildung zu übernehmen.2 Ich habe geglaubt, mich in einer so entscheidungsschweren Stunde diesem Rufe nicht versagen zu dürfen. Die Umstände, unter denen die Regierung gebildet werden mußte, brachten es mit sich, daß nicht alle Ministerien sofort besetzt werden konnten. Meine Damen und Herren! Die Aufgabe in dieser schweren Stunde ist, die Entscheidung des Reichstages über das Ultimatum der alliierten Regierungen herbeizuführen. In langwierigen Verhandlungen haben Sie sich Ihre Meinung über den Inhalt des Ultimatums gebildet. Im Hinblick auf den Ablauf der Frist muß ich Sie bitten, Ihrer Meinung durch eine unverzügliche Entschließung Ausdruck zu geben. Sie wissen, bei Nichtannahme des alliierten Zahlungsplans droht nach Ablauf des Ultimatums binnen 48 Stunden die militärische Besetzung des Ruhrgebiets durch französische, belgische und britische Truppen. Es bleibt uns keine andere Möglichkeit als Annahme oder Ablehnung; - so hat es der Sieger beschlossen. Das Ja bedeutet, daß wir uns bereit erklären, die schweren finanziellen Lasten, die man Jahr für Jahr von uns


1Bd. 349, S. 3629A
2S. 3629D

fordert, in freier Arbeit zu ertragen, und das bedeutet konkret 2 bis 3 Milliarden Goldmark jährlich über einen Zeitraum von 42 Jahren an die Siegermächte zu zahlen. Die erste Rate von 1 Milliarde ist bereits am 1. August diesen Jahres fällig. Die Ablehnung bedeutet die Zwangsvollstreckung an unserer ganzen Volkswirtschaft, würde bedeuten Sklavenarbeit unter Aufsicht feindlicher Bajonette,

(Unruhe rechts)

würde bedeuten, die Auslieferung der Grundlagen unserer ganzen industriellen Tätigkeit; Zerreißung unseres so stark geschwächten Wirtschaftskörpers und Knebelung unseres ganzen Erwerbslebens. Aber noch ungeheuerlicher können sich die Wirkungen für unsere politische Existenz, für unser Reich auswachsen. Es steht mehr als Geld und Gut auf dem Spiele.

(Sehr wahr! Im Zentrum, den Deutschen Demokraten und Sozialdemokraten.)

Es handelt sich um die ganze Zukunft unseres hart geprüften, geliebten Vaterlandes.

(Erneute lebhafte Zustimmung.)

Um das Reich und seine Einheit zu retten, um deutsches Land vor der Gefahr feindlicher Invasion zu bewahren, um die deutsche Freiheit zu erhalten,

(bravo! im Zentrum und bei den Sozialdemokraten)

dafür ist das deutsche Volk

(Unruhe und Zurufe rechts)

zu den höchsten materiellen Opfern bereit. Die deutsche Regierung nimmt aus diesem Grunde das Ultimatum an. Wir wissen, daß mit dieser Annahme gewaltige Folgen verknüpft sein werden für die Gestaltung unseres Wirtschaftslebens. Die Verantwortung für die weltwirtschaftlichen Folgen des Ultimatums liegt bei der Gegenseite. Über eines aber, meine Damen und Herren, volle Klarheit und volle Aufrichtigkeit! Zwecklos wäre es, das Ja zum Zahlungsplan auszusprechen, ohne den entschlossenen Willen, das Äußerste aufzubieten, um den uns auferlegten Lasten gerecht zu werden. Nur durch Leistungen nicht durch Worte können wir unsere Gegner von der Aufrichtigkeit unseres Wollens überzeugen. Durch die Annahme des Ultimatums beseitigen wir die unmittelbar drohende Besetzung des Ruhrgebiets.

(Lachen rechts.)

Die geäußerte Besorgnis, das Ruhrgebiet könnte besetzt werden, auch wenn wir das Ultimatum annehmen und den Zahlungsplan zu erfüllen versuchen, finde ich im Text des Ultimatums nicht begründet.

(Erneutes Lachen rechts.)

Daß wir in dieser schicksalsschweren Entschließung unsere Blicke auch auf Oberschlesien richten, bedarf keinerlei Begründung. In dieser Hinsicht vertrauen wir darauf, daß die Alliierten die Volksabstimmung vom 20. März respektieren. Worauf es jetzt ankommt ist, daß die alliierten Regierungen verhindern, daß die polnische Regierung in Oberschlesien entgegen dem Abstimmungsergebnis vollendete Tatsachen schafft. Die Alliierten dürfen nicht dulden, daß ein polnischer Diktator die wenigen Rechte, die uns der Friedensvertrag gibt, mit Füßen tritt. Die neugebildete Regierung empfiehl Ihnen nun nach gewissenhafter Prüfung die Annahme des Ultimatums.


nächste