1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 109. Sitzung. Mittwoch den 1. Juni 1921.

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109. Sitzung. [i]


Mittwoch den 1. Juni 1921


Präsident: Die Sitzung ist eröffnet. Wir treten in die Tagesordnung ein. Einziger Gegenstand der Tagesordnung ist die Entgegennahme einer Erklärung der Reichsregierung. Zu dieser Erklärung erteile ich das Wort dem Herrn Reichskanzler. 1

Dr. Wirth, Reichskanzler: Meine Damen und Herren! Man erwartet von der neuen Regierung ein Programm. Ich will dieses Programm in eine kurze Form zusammenfassen, in drei Worte. Diese drei Worte heißen: Verständigung, Wiederaufbau und Versöhnung. Dies gilt für die äußere wie für die innere Politik. In dieser Formel soll ausgedrückt sein, daß wir alle unsere Kräfte daran setzen wollen, das deutsche Staatsschiff zu erretten aus den klippenreichen Wogen der Krisen und Katastrophen, um es in ein ruhiges Fahrwasser friedlicher Entwicklung zu lenken. Zumindest ist durch die Annahme des Ultimatums manchen außen- wie innenpolitischen Kämpfen ein Schlußstein gesetzt, und unsere Politik in eine bestimmte Bahn gelenkt. Die Absicht der Regierung ist eindeutig und klar: sie will die aus dem Ultimatum übernommenen Verpflichtungen gewissenhaft und loyal erfüllen. Sie will den guten Mut haben und von dem ganzen deutschen Volk verlangen, daß es sich anstrengt, Leistungen größter Art zu vollbringen. Hierin erblickt die Reichsregierung die einzige für Deutschland mögliche Politik. Nicht akademische Erörterungen, sondern allein die praktische Anerkennung des Leistungsprinzips wird für Deutschland und seine schwere Lage in der Welt Verständnis erwecken. Das Ultimatum stellt uns kurze Fristen. Einige sind schon abgelaufen. Wir haben sie eingehalten. Die am 30. Mai fällige Zahlung von einer Milliarde Goldmark ist trotz aller Schwierigkeiten gezahlt worden. Davon 150 Millionen Goldmark in bar und der Rest durch Schatzwechsel. Diese Schatzwechsel sind bis zum 31. August einzulösen. Auf Wunsch der Siegermächte tragen sie das Indossament der Darmstädter Bank, der Deutschen und der Dresdner Bank und der Disconto -Gesellschaft. Die von den Alliierten geforderte Entwaffnung der Einwohnerwehren geht nur schleppend voran. Ich hoffe, daß die Abgabe der Waffen pünktlich innerhalb der gesetzlichen Fristen erfolgt. Die freiwillige Entwaffnung ist eine wichtige Tat auch für Deutschlands innere Sicherheit. Hier Zwang anzuwenden, würde nur zur Entzweiung der deutschen Stämme führen. Die bayrische Regierung hat über die notwendige Entwaffnung mittlerweile eine Erklärung abgegeben. Neben der


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Abgabe der Waffen stellt sich zudem auch die Auflösung der bewaffneten bayrischen Einwohnerwehren. Ich komme nun zu den Aufgaben, die sich aus dem wirtschaftlichen Teil des Ultimatums für Deutschland ergeben. Hierzu gehört die Zahlung von 2 Milliarden Goldmark pro Jahr, sodann der variable Faktor der 26prozentigen Abgabe auf alle Exportumsätze an die Entente, sowie die Besatzungskosten für das Rheinland, die wir selber zu tragen haben. Alles in allem haben wir allein in diesem Jahr 3 ¼ Milliarden Goldmark zu zahlen. Diese Summe ist außerordentlich groß, besonders weil sie von einem Land mit entwertetem Geld gefordert wird. Alle Streiterei darüber ob wir diese Summen überhaupt bezahlen können oder nicht, führt zu nichts. Wir müssen sie zahlen. Für die Freiheit ist kein Preis zu hoch. Hierfür muß das ganze Volk oder auch nur einzelne Kreise zu großen Opfern bereit sein. Für die Erfüllung des Zahlungsplans müssen wir einen sorgfältig erarbeiteten Zahlungsplan aufstellen. Was die 26prozentige Ausfuhrabgabe 2 auf alle deutschen Exporte anbetrifft, muß darauf hingewiesen werden, daß eine andauernde und gänzliche Rückvergütung an die deutschen Exporteure nicht in Frage kommen kann. Sie müssen diese Abgabe an die Siegermächte zu einem bestimmten Teil selber tragen.

(Zurufe rechts: Aha! Unruhe rechts.)

Wenn wir für die Exporteure einen Teil der Exportabgabe übernehmen wollen, so muß eine steuerliche Einnahme Quelle gefunden werden, die diese schwankende Abgabe finanziert.

(Zuruf links: Am besten bei den Arbeitern!)

- Wir wissen, daß die reparationsbedingten Steuern eine Frage der Sozialethik ist. Hält man Ausschau nach neuen Steuerquellen 3 , so richtet sich das Augenmerk des Steuerpolitikers unwillkürlich auf die Kohle. Denn die deutsche Kohle ist auch heute noch viel niedriger als der Weltmarktpreis. Dies liegt daran, weil man die Preisbildung bisher nicht der freien Wirtschaft überlassen hat. Ansonsten müßte nämlich die Industrie längst den Weltmarktpreis für die Inlandskohle zahlen. Wir haben so der deutschen Industrie bisher eine erhebliche Vergünstigung in den Produktionskosten verschafft. Hier liegt eine Reserve vor, die zur Begleichung der Reparationslasten heran-gezogen werden kann. Bei der Abschöpfung dieser Reserve muß jedoch zwischen Industriekohle und Hausbrandkohle unterschieden werden. Es gilt dann weiter, die übrigen Steuern so auszubauen, daß sie hinreichend sind , um die etwa noch fehlenden Beträge aufzubringen. Das Bestreben der Reichsfinanzverwaltung muß dabei von folgenden Gesichtspunkten geleitet werden: Wo noch Besitzsteuern durchzuführen sind, die ohne Schädigung des Wirtschaftsprozesses durchgeführt werden können, müssen sie selbstverständlich eingeführt werden.

(Zuruf rechts: Erzberger der Zweite!)

Gestatten Sie mir ein offenes Wort. Es hat ein großes Maß von Geduld dazu gehört, im Laufe eines Jahres die Veranlagung der Besitzsteuern und der Einkom-


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