1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 110. Sitzung. Donnerstag den 2. Juni 1921.

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110. Sitzung. [i]


Donnerstag den 2. Juni 1921


Präsident: Zur Aussprache über die Erklärung der Reichsregierung hat das Wort der Herr Abgeordnete Wels.

Wels, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! Noch nie zuvor hat in unserer Republik eine Regierung den Ernst der Lage so deutlich dargelegt wie die jetzige. Die Annahme des Ultimatums durch die Mehrheit dieses Hauses hat die Spannung gelöst, die über der Welt hing. Es zeigt sich unverkennbar eine ruhigere Stimmung. 1 Es war auch für meine Partei ein schwerer Entschluß, dem Ultimatum zuzustimmen. Wir haben damit einen Wechsel auf unsere wirtschaftliche Zukunft ausgestellt, der bei jeder Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse von den Alliierten sofort eingetrieben wird, und wir haben das in einer Zeit getan, da bei uns die Bevölkerung das Notwendigste entbehrt, Millionen von Kriegsbeschädigten sich kaum noch über Wasser halten können, die Sterblichkeit steigt und die Geburtenziffer sinkt. Freilich, wir hätten das Ultimatum zurückweisen können, aber dann stünden die französischen Heere im Ruhrgebiet, während Korfanty mit seinen Banden unbestrittener Herr von Oberschlesien geworden wäre.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Keine Reichswehr und kein Selbstschutzverband hätte uns davor schützen können. Mit dem Verlust des Ruhrgebiets und Oberschlesiens wäre es mit dem Reich geschehen gewesen.

(Zuruf rechts: warten Sie's mal ab!)

Wegen seiner notgedrungenen Unterwerfung unter den übermächtigen Willen unserer früheren Feinde ist Deutschland dann von den so genannten Deutsch-nationalen als ein "Volk der Lügner" und das Kabinett Wirth als "die Regierung der Lüge" bezichtigt worden. Ich kann diesen Herrschaften nur eines sagen: Eine Regierung, die sich der Annahme des Ultimatums verweigert hätte, wäre sehr schnell am Ende ihres Lateins angekommen. Die Unterzeichnung des Ultimatums war eine Notwendigkeit, um den sofortigen politischen, wirtschaftlichen und moralischen Zusammenbruch Deutschlands abzuwehren. Herrn Helfferich, der die finanzielle Last des Krieges auf die besiegten Feinde abwälzen wollte, und den Herrn Reichskanzler glaubt, einen Erfüllungsgehilfen der Siegermächte nennen zu müssen, soll sich gesagt sein lassen, daß


1 Bd. 349, S. 3722C

wir Sozialdemokraten lieber in Freiheit die Schulden des alten Kaiserreichs und seiner fatalen Machtpolitik unter Entbehrungen ableisten wollen, als unter den Geschützrohren der Entente - Panzer, die aus Deutschland herausholen würden, was sie wollten. Nun empfahl uns Herr Hergt, das Ultimatum nicht zu unterschreiben. Für den Fall einer alliierten Invasion ins Ruhrgebiet, die dann mit Sicherheit gekommen wäre, empfahl er uns den passiven Widerstand aller Deutschen. Aber, meine Damen und Herren, schon Karl Marx hat den passiven Widerstand verspottet, als den Widerstand des Schafes gegen den Schlächter. Nun treibt aber die Partei des Herrn Hergt, wie wir alle täglich erleben müssen, eine Opposition um jeden Preis und zwar gemeinsam mit den Kommunisten. Dadurch sind die früheren Deutschkonservativen ein Element ewiger Beunruhigung für uns geworden. Wären wir Ihren Ratschlägen gefolgt, dann wäre das Reich wieder vollends zugrunde gerichtet worden. Ebenso wie die Deutschnationalen um Herrn Hergt, waren auch die Schwerindustriellen unter der Führung des Herrn Stinnes bereit, alles zusammenbrechen zu lassen. Diese Herren haben nach wie vor die wirtschaftliche Macht in Händen und es ist ihnen unerträglich, in diesem Staat nicht auch die politische in Händen zu haben. In ihrem rücksichtslosen Kampf um die Macht, gefährden sie den Staat unausgesetzt und gefährden ihn auf das schwerste.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Die Annahme des Ultimatums durch uns und die Zustimmung Frankreichs dazu ist ein Friedenswerk. Es ist der erste Schritt zur Beendigung des Kriegszustands. Aber im Ausland beginnt man zu erkennen, daß mit der Annahme des Ultimatums durch uns daß Maß der Zumutungen restlos voll gemacht worden ist. Deshalb hütet man sich, es zum Überlaufen zu bringen, denn dazu gehört bekanntlich nur ein einziger verhängnisvoller Tropfen. Wenn wir den Weg zum Frieden weiter gehen wollen, müssen wir die Bedingungen des Ultimatums erfüllen. Das Erfüllen geht aber nicht ohne die Unterstützung des arbeitenden Volkes. Deshalb muß sich eine Regierung der Erfüllung in erster Linie auf die werktätigen Massen stützen. Glaubt sie aber sich gegen die Massen stellen zu können, wäre sie sofort erfüllungsunfähig. Stützt sich die Regierung auf das werktätige Volk und erfüllt seine Forderungen wie die nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes, dann kann die Regierung sicher sein, jedem Umsturzversuch von links oder rechts begegnen zu können, seien es die Anhänger eines kommunistischen Sekretärkollegiums aus Turkistan oder der nationalistischen Reaktionäre und Revanchisten á la Kapp. Bisher wurde ein rechter Putsch abgewehrt und ein kommunistischer Aufstand niedergeschlagen. Aber niemand im Lande wird eine Antwort auf die Frage wissen, warum bis heute noch kein Kapp-Verbrecher verurteilt worden ist, wohl aber Tausende von Teilnehmern des


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