Dienstag den 27. September 1921
Die Sitzung wird um 3 Uhr 17 Minuten durch den Präsidenten Löbe eröffnet.
Präsident: Ich eröffne die erste Sitzung des Reichstags nach der Sommerpause.1
Meine Damen und Herren! Seit unserem Auseinandergehen hat der Tod
(das Haus erhebt sich)
eine reiche und schmerzliche Ernte unter den Mitgliedern dieses Hauses gehalten und besonders die Fraktion des Zentrums schwer heimgesucht.
Am 20. Juli schloß seine Augen ein Senior der deutschen Parlamente, Herr Prälat und Professor Dr. Hitze, der seit 1882 Mitglied
des Preußischen Abgeordnetenhauses und seit 1884 ununterbrochen Mitglied des Deutschen Reichstages und der Nationalversammlung
gewesen war und in dieser langen Zeit eine sozialpolitische Tätigkeit entfaltet hat. Die ganze deutsche Sozialgesetzgebung ist
unter seiner Mitwirkung gefördert worden, und noch in den letzten Monaten vor unserem Auseinandergehen hat er an den Ausschußberatungen
aktiv Anteil genommen. In den Blättern, welche die Verhandlungen der deutschen Sozialpolitik verzeichnen, ist sein Name unvergänglich
aufgezeichnet und sein Andenken wird in ferner Zukunft fortleben.
Das Grab über ihm hatte sich noch nicht geschlossen, als der Tod der Führer der Zentrumspartei - am 25. Juli des Herrn
Geheimrats und Staatssekretärs a.D. Trimborn und kaum einen Monat später, am 19. August seines Vorstandskollegen, des Herrn
Reichsgerichtsrats Burlage - neue schmerzliche Lücken in die Reihen der Zentrumsfraktion des Reichstags riß. Beide führenden
Parlamentarier haben, auf allen Seiten des Hauses hochgeehrt und geachtet, hervorragenden Anteil an den Arbeiten des Reichstags
seit Jahrzehnten genommen; Herr Kollege Trimborn schon seit dem Jahre 1896, Herr Kollege Burlage mit Unterbrechungen seit 1903.
Wir schätzen in Herrn Kollegen Trimborn besonders den liebenswürdigen Zug seiner nie versiegenden Heiterkeit und seines goldenen
Humors, der mehr als einmal in kritischen Situationen helfend eingriff; aber auch als Parteiführer war er bemüht, ausgleichend
und versöhnend zu wirken. Ich danke dem Verstorbenen besonders für die Freundlichkeit und die Nachsicht, mit welcher er dem
seinen Aufgabenkreis noch nicht voll übersehenden Vorsitzenden dieses Hauses hilfreich seine Hand lieh und ihn beriet.
Herrn Kollege Burlage haben wir alle in Erinnerung als einen der Treuesten, der in kleinen und großen Sitzungen bis zuletzt
an seinem Platze aushielt und so das Vorbild parlamentarischer Pflichterfüllung wurde.
1Bd. 351, S.4568B
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Erschütternder aber selbst als diese herben Verluste wirkte auf uns die Nachricht von dem tückischen Meuchelmord,
dem unser Kollege Erzberger, Reichsfinanzminister a. D., am 26. August zum Opfer fiel. Dieser Mord hat unser
Land in neue schwere Unruhen gestürzt; denn er war nicht die vereinzelte Tat eines blinden Fanatikers oder
eines verstiegenen Idealisten, sondern er war der kaltblütige Überfall ausgeschickter Mordgesellen.
Schlimmer fast noch: es hat vor der Tat Stimmen gegeben, die sie offen herbeiwünschten, und es hat auch nach
der Tat Stimmen gegeben, die sie billigten, rechtfertigten, entschuldigten. Man billigt die Tat der Mörder,
die vorgaben, dem Vaterlande einen Dienst zu erweisen, und die doch selbst nicht den Mut hatten, für ihre
Tat einzustehen, sie zu verantworten, die sich verbargen und flohen und damit bewiesen, daß sie selber dem
Vaterlande kein Opfer bringen wollten. Man sah nicht, daß das Kleid des Offiziers mit Mörderblut befleckt
wurde von denen, die es einst für das erste Kleid erklärt hatten. Man sah nicht, daß sie vor dem Auslande
Angehörige der Armee herabsetzten, die vorher schon schweren Angriffen ausgesetzt waren. Der gefallene
Erzberger hat gewiß oft im härtesten Kampfe gestanden und manches mal eine scharfe Klinge geführt,
aber er hat auch gearbeitet im Dienste des Parlaments und des Landes wie nur wenige. Vielleicht mag
ihm dabei mancher Fehlgriff unterlaufen sein. Wer die Verantwortung nicht in seine Hände nimmt, der
ist vor solchen Fehlgriffen geschützt. Die aber den Kampf gegen ihn vom politischen Felde auf das
Persönliche übertrugen, die haben teil an der geistigen Verwirrung, der er zum Opfer gefallen ist.
Ich wiederhole deshalb an dieser Stelle, was ich an seinem stillen Grabe in Biberach sagte:
"Möge die Geschichte ihm geben, was viele seiner Zeitgenossen ihm versagt haben! Möge sie an seinem
Namen gutmachen, was an seinem Leben nicht mehr gutzumachen ist!!"
Ich stelle fest, daß der Reichstag sich zu Ehren der Verstorbenen von den Plätzen erhoben hat.
Meine Damen und Herren, die Liste des Leidens das uns getroffen, ist noch nicht erschöpft.2
Am 21. September ereilte die Schreckensnachricht die deutschen Gaue, daß durch ein furchtbares, heute noch nicht voll
aufgeklärtes Unglück bei Ludwigshafen, hunderte deutscher Arbeiter und Angestellten ihren Tod gefunden, Hunderte von
Frauen und Kinder ihr Lebensglück und ihren Ernährer verloren haben, viele andere ihre Gesundheit. ihre Wohnung, ihr
Hab und Gut. Mit tiefer Trauer steht der Reichstag an der Bahre dieser Opfer der Arbeit, drückt den Hinterbliebenen sein
innigstes Beileid aus und verspricht, an seinem Teile mitzuwirken an der Linderung der Schmerzen, die durch Menschen
gelindert werden können. In der Teilnahme für die Betroffenen, in der Hilfsbereitschaft für die Angehörigen werden alle
Parteien dieses Hauses einig sein. - Ich stelle fest, daß der Reichstag auch zu ihrem Andenken sich von den Plätzen erhoben hat.
2S.4569A
Zu RT-Sitzung 136
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