Mittwoch den 26. Oktober 1921
Beratung der Entscheidung der Botschafter-konferenz vom 20. Oktober d. J. (Oberschlesien). 1
Präsident: Meine Damen und Herren! Ich eröffne die Sitzung des Reichstags, die Stellung nehmen muß zu dem schweren,
vielleicht unverwindbaren Schlage, der unserem Volke durch die Entscheidung des Obersten Rates über O b e r s c h l e s i e n
zugefügt worden ist. 2
Das Wort hat der Herr Reichskanzler Dr. Wirth.
Dr. Wirth, Reichskanzler: Meine Damen und Herren! 3 Auf Grund des Auftrages des Herrn Reichspräsidenten habe ich
die Bildung der neuen Regierung übernommen.Die neue Regierung ist in einer schweren äußeren Lage des Reiches und unter
innerpolitischen Schwierigkeiten gebildet worden.
Die Aufgabe, 4 die als nächste und dringlichste der neuen Regierung zur Lösung unterbreitet wurde, ist zugleich auch die
schmerzlichste und härteste, die wohl einer Regierung zuteil werden kann. Es ist uns durch die Verhältnisse auferlegt,
innerhalb kürzester Frist Stellung zu der Entscheidung der Botschafterkonferenz über Oberschlesien zu nehmen und die
mit einer solchen Stellungnahme verbundenen Entschlüsse durchzuführen. Wie Sie wissen, haben die alliierten Hauptmächte
England, Frankreich, Italien und Japan am 20. Oktober eine Entscheidung getroffen, die das oberschlesische Abstimmungsgebiet
durch eine den Industriebezirk zerreißende Grenzlinie teilt und die Deutschland die Verpflichtung auferlegt, mit Polen unter
der Leitung eines neutralen Vorsitzenden ein Übergangsabkommen abzuschließen, durch das die aus der Grenzführung sich
ergebenden wirtschaftlichen Schädigungen ausgeglichen werden sollen. Zugleich haben diese Mächte beide beteiligten Staaten,
Deutschland und Polen, aufgefordert, binnen 8 Tagen je einen Bevollmächtigten zum Abschluß dieses Abkommens zu benennen.
Vor diese Entscheidung der Botschafterkonferenz gestellt, hat sich die frühere Regierung entschlossen, dem Herrn
Reichspräsidenten ihre Demission anzuzeigen. Sie hat mit diesem Schritt die Auffassung bestätigt, daß sie die
Entscheidung der ober-schlesischen Frage in der Form, wie sie erfolgt ist, für ein Unrecht und für ein Unglück ansieht. Sie hat
1Bd. 351, S. 4731A
2S. 4733B
3S. 4733C
4S.4733D
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zugleich in dem ihren Rücktritt begründenden Schreiben an den Herrn Reichspräsidenten sich dahin ausgesprochen, daß durch den
Spruch der Botschafterkonferenz eine neue politische Lage geschaffen sei.
Meine Damen und Herren! Zu diesen beiden Gesichts-punkten, welche den Rücktritt der alten Regierung veranlaßten, hat
auch die neue Regierung Stellung zu nehmen. In ihrem Namen erkläre ich, daß auch sie in der Beurteilung der Entschließung
über Oberschlesien in nichts von dem Standpunkt der vorigen Regierung abweicht. Auch die neue Regierung ist der Meinung
und betont dies feierlich vor aller Welt, daß durch den Spruch der Botschafterkonferenz Deutschland und dem betroffenen
Oberschlesien harte Gewalt angetan wird.
(Lebhafte Zustimmung.)
Wenn wir den Spruch über Oberschlesien auf Grund des durch den Versailler Friedensvertrag gegebenen Rechts prüfen, so oblag den
Alliierten Hauptmächten, eine Grenze zwischen Deutschland und Polen zu ziehen, die sowohl dem Abstimmungsergebnis wie der
geographischen und wirtschaftlichen Lage der Ortschaften Rechnung tragen sollte. Diese Entscheidung durften nach dem Vertrage
nur die Hauptmächte selbst treffen. Sie haben sich dieser Pflicht jedoch dadurch entledigt, daß sie den Rat des Völkerbundes
um ein Gutachten ersuchten und zugleich untereinander dahin übereinkamen, dieses Gutachten, wie es auch immer lauten möge, für
sie bindend anzunehmen.
Nach unserer Auffassung, die mit dem allgemeinen Rechtsempfinden identisch ist, verstößt die hierin liegende Übertragung
der Entscheidung an eine andere Instanz gegen den klaren Wortlaut des Vertrages.
(Lebhafte Zustimmung.)
Dieser Vorstoß wird auch nicht dadurch geheilt, daß die Entscheidung vom 20. Oktober sich nach außen hin und formell als Beschluß
der Hauptmächte darstellt. Aber auch in der Sache selbst steht die Entscheidung mit den Vorschriften des Vertrages von
Versailles im schroffen Widerspruch.
(Sehr richtig!)
Sie muß selbst anerkennen, daß die alliierten Hauptmächte nicht imstande gewesen sind, eine Grenze zu finden, die sowohl dem durch
die Abstimmung bekundeten Willen der Einwohner wie den geographischen und wirtschaftlichen Verhältnissen gerecht wird. Sie stellt
vielmehr ausdrücklich fest, daß die gewählte Linie wichtige wirtschaftliche Interessengebiete zerreißt,
(sehr richtig!)
also eine Gefahr und einen Nachteil für das Land Oberschlesien nicht vermeidet, die durch die Bestimmungen des Vertrages vermieden
werden sollten. Daraus ergibt sich nach einer Logik, die nicht nur die Logik Deutschlands sein kann, daß eine solche Grenze nicht
gezogen werden durfte, weil sie die Deutschlands, durch den Vertrag gewährleisteten Rechte, verletzt.
(Sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten.)
Um nun diese eingestandenen Rechts- und Interessenverletzungen der Grenzführung auszugleichen, haben die alliierten
Hauptmächte zugleich mit der Festlegung der Grenzlinie beschlossen, den beteiligten Staaten ein Übergangsregime aufzuzwingen,
eine Maßregel und Verfügung, die gänzlich außerhalb der ihnen vom Vertrag zugewiesenen Befugnisse liegt.
(Sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten, im Zentrum und rechts.)
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