Freitag den 16. Dezember 1921
Mündlicher Bericht des 22. Rechtsausschusses über
Anträge Bartz und Genossen, betreffend die
sofortige Außerkraftsetzung der vom
Reichspräsidenten am 28. September d. J.
erlassenen Verordnung über den Ausnahmezustand
für das ganze Reich.
Präsident: Ich eröffne die Beratung.
Das Wort hat der Herr Berichterstatter, der Abgeordnete Marx.
Marx, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! Dem Ausschusse lagen zunächst drei Anträge vor, die ausgingen von der Partei
der Kommunisten, der Fraktion der Deutschnationalen und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Sie verlangen
übereinstimmend, daß die Verordnung des Reichspräsidenten vom 28. September dieses Jahres über den Ausnahmezustand
für das ganze Reich außer Kraft gesetzt werden soll. 1
Was die drei hier zur Verhandlung stehenden Anträge anlangt, so wurde ausgeführt, die Verordnung des Herrn Reichspräsidenten
vom 28. September entbehre des Rechtsgrundes. Sie stütze sich auf Artikel 48 der Reichsverfassung, der im Absatz 1 sagt:
Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident
es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten.
Absatz 2 bestimmt dann, daß der Reichspräsident,
"wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich
gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen" kann,
"erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht."
Zu diesem Zwecke - so heißt es -
darf er vorübergehend die Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.2
Es wurde davon gesprochen, daß zurzeit keine Veranlassung vorhanden sei, die Verordnung aufrecht zu erhalten; denn sie
sage ausdrücklich in ihrer Einleitung:
Auf Grund des Art. 48 der Verfassung des Deutschen Reiches wird die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
für das Reichsgebiet folgendes verordnet:
Die Verordnung sei also ausdrücklich zu dem Zwecke bestimmt, die öffentliche Sicherheit und Ordnung für das Reichsgebiet wieder
herzustellen und zu sichern. Zurzeit sei aber von einer Bedrohung der öffentlichen
1Bd. 352, S. 5266B
2S. 5266C
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Sicherheit und Ordnung keine Rede; die Verordnung habe also wohl ihren Zweck erfüllt, und es bestehe kein Grund, sie noch
weiter bestehen zu lassen; sie könne aufgehoben werden. 3
Das wurde wieder von anderer Seite bestritten. Es wurde ausgeführt, daß durch das Verhalten gewisser Presseorgane
und vielleicht auch gewisser Versammlungen und Veranstaltungen die Sicherheit des Reiches fortgesetzt bedroht sei.
Der Ausschuß hat dann beschlossen, in Anbetracht, namentlich der letzten Ausführungen, dem Reichstag vorzuschlagen,
den vorliegenden Anträgen die verfassungsmäßige Zustimmung nicht zu erteilen.
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Gradnauer.
Dr. Gradnauer, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! Als Ende August und in den folgenden Wochen4 die Wogen der
Leidenschaften hochgingen, als nach dem Attentat auf den Abgeordneten Erzberger schwere Gefahren für unser Land
befürchtet werden mussten, da war die Einführung dieser Verordnung eine Staatsnotwendigkeit ersten Ranges.
(Na! Na! Bei den Unabhängigen
Sozialdemokraten.)
Aber die Entwicklung der Dinge hat nach der Auffassung meiner Fraktion dahin geführt, daß diese Angelegenheit ihre Bedeutung
außerordentlich verloren hat.
(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)
Meine Damen und Herren!5 Die Verordnung besteht seit 3 ½ Monaten. Die Gründe, die zu ihrer Einführung geführt haben,
sind nach der Meinung meiner Parteifreunde nicht mehr vorhanden. Wir bitten darum, daß der Reichstag die Verordnung aufhebt.
Vizepräsident Dittmann: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graef (Thüringen).
Graef, Abgeordneter: Meine Damen und Herren!6 Man hat bei den Verhandlungen im Plenum die Verordnung des
Reichstagspräsidenten mit dem Sozialistengesetz des Fürsten Bismarck in vergleich gesetzt. Ich glaube, wir müssen
wesentlich weiter in der Geschichte unseres Vaterlandes zurückgehen, um auf ähnliche Verhältnisse zu stoßen, die mit
den jetzigen verglichen werden können. Ich sehe einmal um einige Jahrzehnte in der Geschichte unseres Volkes zurück
und komme da auf eine Zeit, die man ja allgemein als die Reaktionszeit zu bezeichnen pflegt, auf die Verhältnisse
nach dem Wiener Kongreß 1815. Wenn man diese Verhältnisse miteinander vergleicht, so drängen sich unwillkürlich
gewisse Parallelen auf. Auch damals eine Mordtat, die bekannte Mordtat des Studenten Sand, die die Gemüter aufs
tiefste erregte, wie auch heute der Mord an dem Abgeordneten Erzberger. Auch damals eine Nervosität der Staatsmänner
und Regierungsleute, die
3S.5267B
4S. 5268A
5S. 5269C/D
6S. 5271C
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