Dienstag den 21. Februar 1922
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hertz
Dr. Hertz. Abgeordneter: Meine Damen und Herren! 1 Die Klagen meiner Vorrednerin über die trostlosen Ernährungszustände
in Deutschland haben zweifellos volle Berechtigung. Ich will die Einzelheiten, die sie vorgetragen hat, nicht durch weitere
Beispiele ergänzen. Ich glaube aber, es lohnt sich doch, nach den Ursachen dieser Erscheinung zu forschen. Wir haben heute,
abgesehen von Getreide, eine völlig freie Wirtschaft. Alle fesseln, die bisher bei der Verteilung und Erzeugung von Lebensmitteln
aller Art bestanden, sind in den letzten beiden Jahren beseitigt worden. Als sie beseitigt werden sollten, wurde der Bevölkerung
die Zuversicht gegeben, daß sich die Ernährungsverhältnisse durch die Beseitigung aller behördlichen Schranken wesentlich bessern
würden. Keine von allen diesen Voraussagen ist eingetroffen.
(Sehr richtig! links. - Zurufe rechts.)
Wenn wir uns die Tagungen der großen landwirtschaftlichen Organisationen betrachten, die in den letzten Tagen stattgefunden haben,
dann haben wir die Erklärung für dieses völlige Versagen unserer einheimischen Wirtschaft und für die gewaltige Steigerung der
Notlage in den letzten Jahren.
(Zuruf von den Deutschnationalen.)
Sowohl auf der Tagung des Brandenburgischen Landbundes, die hier in Berlin stattgefunden hat, als auch auf der Tagung des Reichslandbundes
in Hannover ist nichts von dem Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein zutage getreten
(nanu! Bei den Deutschnationalen)
von dem die Herren hier so oft sprechen,
(Zustimmung links)
und ich kann mich durchaus dem Ausspruch eines Herrn aus der Demokratischen Fraktion anschließen, der vor einigen Monaten in
der Stadtverordnetenversammlung in Zittau eine Erklärung abgab, daß er jetzt nicht mehr für eine freie Wirtschaft eintreten könne,
weil die Landwirtschaft jenes Maß von Verantwortungsbewußtsein vermissen lasse,
(hört! hört! links)
das die Voraussetzung für die Freiheit der Wirtschaft darstelle.
(Zustimmung links. - Unruhe und Zurufe bei
den Deutschnationalen.)
Meine Damen und Herren! Seit einigen Monaten sprechen die Herren vom Reichslandbund von ihrem großen Hilfswerk.
Zunächst haben sie nur das
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Positive in den Vordergrund geschoben, jenen von allen Parteien dieses Hauses anerkannte Grundsatz, daß die Steigerung der
einheimischen Erzeugung die wichtigste Aufgabe unserer Wirtschaftspolitik ist.
(Abgeordneter Dr. Semmler: Warum streiken
Sie? - Lachen links.)
- Herr Kollege Semmler, Sie sind der letzte, der sich darüber aufregen sollte und der ein Recht dazu hat, den Arbeitern das
Streikrecht irgendwie einzuschränken.
(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)
Denn aus Ihren Äußerungen, die Sie in zahlreichen Sitzungen hier im Hause gemacht haben, geht mit unzweifelhafter Sicherheit
hervor, daß Sie den Arbeitern freiwillig niemals ein Recht auf menschenwürdige Existenz zugestanden haben.
(Lebhafte Zustimmung links. - Zurufe rechts.)
Als einige Wochen der Diskussion über das Hilfswerk ins Land gegangen waren, wurden die Herren vom Reichslandbund
deutlicher. Nun schoben sie nicht mehr den Gedanken in den Vordergrund, die landwirtschaftliche Erzeugung in Deutschland
zu steigern, sondern nun traten sie mit zahlreichen Bedingungen hervor, von denen sie diese selbstverständliche,
ihnen durch die Verfassung auferlegte Pflicht abhängig machen wollen; sie forderten: erst Beseitigung der Umlage,
(sehr richtig! bei den Deutschnationalen)
erst Beseitigung des Achtstundentages, erst Beseitigung der Tarifverträge, erst Aufräumen mit der Finanzpolitik der letzten
Regierung, erst mehr Steuerfreiheit der Landwirtschaft, dann wollen wir das tun, was jede Arbeitsorganisation tun würde
angesichts der großen Notlage, in der sich die Wirtschaft und das Reich befinden, die Einzelinteressen hinter den Interessen
der Allgemeinheit zurückzustellen, sind sowohl auf der Berliner Tagung als auch auf der Tagung in Hannover nur Worte der
schärfsten Kritik, nur die Aufforderung zur Verweigerung der staatsbürgerlichen Pflichten erhoben worden.
(Zurufe von den Sozialdemokraten: Und Beschimpfungen!)
Die Umlage von Getreide sollte beseitigt werden; die Finanzämter, die nur ihrer Pflicht genügen, wenn sie den zahlreichen
Steuerhinterziehungen besonders agrarischer Kreise zu Leibe gehen, sind beschimpft worden. Es ist jede Erfüllung der hier im
Reichstage von der Mehrheit zu beschließenden Steuergesetze und insbesondere der Zwangsanleihe abgelehnt worden. Selbst wenn
man kein Freund von Eingriffen des Staates und des Reiches in die Wirtschaft ist und wenn man zugibt, daß in der heutigen Zeit
gewisse wirtschaftliche Bedenken gegen solche Zwangseingriffe vorzubringen sind, - Ihr Verhalten zwingt den Staat zu solchen Zwangseingriffen,
(sehr richtig bei den Unabhängigen Sozialdemokraten und den Sozialdemokraten)
wenn er nicht die Verantwortung auf sich laden will, daß durch das gewissenlose verhalten großer Teile der landwirtschaftlichen
Bevölkerung andere viel zahlreichere teile der Bevölkerung in Not und Elend untergehen.
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