1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 17. Sitzung. Dienstag den 3. August 1920.

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nützliche Tätigkeit verrichten, ein Plan ausgearbeitet wird, wie Hilfe gebracht werden kann. Dieser Plan ist auch bereits in diesen Kreisen durchberaten worden. Er hat auch zum Teil die Zustimmung der Regierung gefunden, und jetzt kommen Sie mit einem solchen Antrag und machen alle diese Besprechungen kaputt. Es ist nämlich beabsichtigt, die polnischen Ostjuden nicht zwangsweise, sondern durch Zusammenarbeit mit den Wohlfahrtsorganisationen, die besonders die jüdisch-polnische Arbeiterschaft geschaffen hat, in Lagern unterzubringen, aber nicht in Internierungslagern, sondern in Lagern, wo Selbstverwaltung stattfindet und wo die dort Untergebrachten nicht das Sklavenjoch führen müssen, das mit Internierungslagern unbedingt verknüpft ist. In diesen freiwillig aufgesuchten Lagern soll Arbeit für die in Lagern Aufgenommenen geschaffen werden in ständigem Zusammenarbeiten mit den Arbeiterorganisationen. Als im Ausschuß davon die Rede war, wurde mir entgegengehalten, das käme ja auch auf eine Art Internierung heraus, und insbesondere waren es zu meiner Überraschung die Herren Demokraten, die entgegen ihren besseren früheren Gepflogenheiten hier gegen die unglücklichen Ostjuden Internierungsmaß-nahmen gefordert haben.

(Hört! Hört! Bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Gegenüber diesen Einwendungen der Demokraten möchte ich darauf aufmerksam machen, daß eine Internierung, wie sie sie fordern, ohne Zwang einfach nicht durchgeführt werden kann, daß dagegen eine freiwillige Zusammenarbeit der unglücklichen Betroffenen und der Arbeiterorganisationen eine Möglichkeit der Lösung der Fragen bietet, bei der keinerlei Zwang ausgeübt und das Problem, um das es sich handelt, wirklich gelöst wird. Im Zusammenhang damit steht, daß leider häufig diejenigen Männer und Frauen, die Arbeit gefunden haben, die Arbeit unmöglich gemacht wird. Da bietet besonders Anlaß zur Klage das Verhalten der deutschen Landarbeiterzentrale. Diese Landarbeiterzentrale vermittelt national-polnischen Landarbeitern Arbeits-stellen, dagegen wird jüdischen Landarbeitern die Arbeitsvermittlung verwehrt.

(Hört! Hört! Bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Dieses widerspruchsvolle und auf Ausnahmebehandlung hinauslaufende Verfahren muß unseren allerschärfsten Widerspruch herausfordern. (Sehr wahr! Bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) Wer arbeiten will, wenn Arbeit da ist, der soll auch arbeiten können. Es ist ganz merkwürdig, daß die Herren von Rechts, die immer nach Arbeit schreien und andere arbeiten lassen wollen, hier diese Unglücklichen von der Arbeit fernhalten. Auch im rheinisch-westfälischen Industriegebiet ist eine ähnliche Klage laut geworden. Dort sind etwa 10 000 ostjüdische Arbeiter in Bergwerken und Maschinenfabriken tätig, und diese Arbeiter werden immer stärker drangsaliert: es wird ihnen die Herausgabe ihres Arbeitsbuches verweigert, sie werden auf direktes Einwirken lokaler Arbeitsämter ohne weiteres auf die Straße gesetzt. Auf diese Weise wird das Bemühen, durch soziale Maßnahmen, durch Arbeitsbeschaffung die Not zu beseitigen, von vornherein verhindert. Darum müssen


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wir auch gegen diese Art des Vorgehens Widerspruch erheben. Ich möchte schließlich auch noch darauf aufmerksam machen, daß dieses Vorgehen gegen die Ostjuden auch im Auslande den allerschlechtesten Eindruck machen muß. Das Ausland beobachtet sehr sorgfältig, was hier in Deutschland geschieht, und es führt nicht dazu, daß Deutschland als Kulturland angesehen wird, wenn bekannt wird, daß mit den barbarischen Maßnahmen gegen unglückliche Einwanderer vorgegangen wird.

(Sehr richtig! Bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Die Herren Demokraten möchte ich ganz besonders darauf aufmerksam machen, daß sie mit der Zustimmung zu dem Antrage, die sie im Ausschuß ausgesprochen haben, der Internierung fremdstämmiger Elemente schon dann zustimmen, wenn sie sich lästig gemacht haben. Das Wort "lästig" ist eine Kautschukbestimmung schlimmster Art.

(Sehr richtig! Bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Wir kennen sie seit Jahrzehnten, da sie gegen Sozialdemokraten unzählige Male angewendet worden ist. Der Begriff der Lästigkeit lässt zu, jeden auszuweisen, den man aus irgendeinem Grunde nicht hier behalten will. Deshalb ist es so bedenklich, diese Internierungsmaßnahmen nur davon abhängig zu machen, daß jemand sich als lästig erweist. Wenn eine untere Polizeibehörde da zu entscheiden hat, kann man sich vorstellen, welcher Ostjude einer solchen unteren Verwaltungsbehörde nicht lästig wird. Meine Damen und Herren! Wenn Sie wirklich die Fragen lösen wollen, die mit der Ein- und Auswanderung zusammenhängen, dann müssen Sie den Antrag gutheißen, der von meinen Freunden gestellt ist, nämlich die Regierung zu ersuchen, dem Reichstag schleunigst eine Denkschrift vorzulegen über die seit 1913 nach Deutschland erfolgte Einwanderung beziehungsweise aus Deutschland erfolgte Auswanderung. Wir sind gern bereit, bei allen sozialen Maßnahmen, die zur Beseitigung der Schwierigkeiten, die mit der Auswanderung verknüpft sind, ernstlich mitzuarbeiten, um dieses Problem einer Lösung entgegenzuführen. Dagegen lehnen wir es strikt ab, auf den Boden derjenigen zu treten, die Internierungsmaßnahmen fordern und glauben, es könnte durch Polizeischikanen eine soziale Frage gelöst werden. Ich protestiere daher gegen den Antrag des Ausschusses.

(Bravo! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Vizepräsident Dr. Bell: Das Wort hat der Herr Reichsminister des Innern.

Koch, Reichsminister des Innern:4 Meine Damen und Herren! Was zunächst die Frage der Ostjuden angeht, so bin ich der Ansicht, daß dies doch eine Frage ist, die nicht vom Standpunkt der Parteipolitik, noch viel weniger etwa vom Standpunkt des Philosemitismus oder Antisemitismus erörtert werden kann. Die Sache liegt viel mehr so, daß wir in einer Zeit, wo es uns in Deutschland an Nahrung, Arbeit und Wohnung fehlt, wo die Gefahr der Einschleppung von Seuchen größer ist, als sie je


4 S. 629B

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