1. Reichstag, Weimarer Republik


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(Zurufe links)

und Schüler wurden von ihren Eltern zum Lohn für eine gute Zensur dort hingeschickt.

(Hört! Hört! rechts. - Zurufe links.)

Wie können wir uns im Reichstag wirkungsvoll gegen die schwarze Schmach wehren,

(sehr richtig! bei den Kommunisten)

wenn man nicht solche Schmach in der Reichshauptstadt rücksichtslos verbietet?

(Sehr richtig! rechts.)

An den Plakatsäulen las man angezeigt die Prämierung des kürzesten Röckchens. Man las dort und an den Bauzäunen: Zeig mir mal dein Muttermal, wo es sitzt, ist ganz egal.

(Zuruf von den Kommunisten: Glauben Sie, daß das die Arbeitslosen sind, die dorthin gehen?)

- Herr Kollege, Sie werden noch weiter von mir hören, daß es größtenteils der reiche Pöbel ist, der zu diesen Dingen geht,

(Zuruf von den Kommunisten: Das sind Eure Wähler!)

Ein reicher Pöbel, mit dem wir nichts zu tun haben wollen.

(Sehr richtig! rechts.)

Ich sah auf der Hochbahn Hallesches Tor die Plakatanzeige eines Theaters Bülowstraße 6: "Lauf doch nicht immer nackt herum", dazu die Theateranzeige: " Der Liebe Gott und die Frauen", - und allen diesen Einwirkungen auf die Seele muß jeder Vater, jede Mutter das Kind aussetzen, das zur Schule geht. Das ist unerträglich.

(Zuruf von den Kommunisten.)

- Dann stimmen Sie auch dementsprechend und stellen Sie sich an meine Seite. Das Berliner Schandblatt "Die Neuesten Nachrichten" wird überall angeboten. Einer seiner Redakteure wird wegen Landesverrat verhaftet, er hatte dem Reichsarchiv Aktenstücke gegen hohe Belohnung entwendet. Das Blatt erscheint weiter! Der Chefredakteur wird als gemeiner Erpresser verhaftet. Das Blatt erscheint weiter. Ein anderes Blatt, das der Widernatur dient, hat sogar in einer der bekanntesten Erziehungsanstalten Eingang gefunden. Im Kleinen Schauspielhaus der Reichshauptstadt wird ein Stück, "Albine und August" betitelt, gegeben, daß ich nach Schlaikjer kurz schildern möchte. Der erste Akt zeigt einen Wanderzirkus, abgerissene Typen, trockener Dialog. Am Ende des Akts ersticht ein betrunkener Artist den Direktor. Der Schriftsteller des Lokalblättchens nimmt die halbwüchsige Tochter von der Leiche des Vaters in seine Junggesellenbude mit. Der zweite Akt spielt dort am Morgen nach der Liebesnacht. "Ach Gott, wir haben diese ganze Nacht nicht einen Augenblick an meinen toten Vater gedacht", sagt die Tochter; "es war meine Pflicht, Dich davon abzulenken und dich zu trösten", sagt der Redakteur. Nun geht Albine mit dem Clown ihres Vaters nach Paris, daher der Titel des Stücks. In Paris wirkt die 17jährige in einem Bordell, dessen Inhaber Rückenmärker ist; sein Sohn hat sich auf die Lyrik geworfen. Im vierten Akt tritt


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der Dichter selbst auf, ein kleines degeneriertes, buckliges Männchen. Wohlverstanden, der Dichter stellt nicht etwa einen Buckligen dar, sondern er ist selbst bucklig und benutzt dies zu einer niederträchtigen Sensation und findet in Berlin einen Direktor, der sich auf dieses Geschäft einlässt. Vom Witz des Stückes einen Beweis! Während die Dirnen trinken und ihre gemeinen Reden führen, geht eine Heilsarmeesoldatin durchs Zimmer: "Auf Eurem Treiben kann niemals der Segen des Herrn ruhn", sagt sie. "Nein, aber der Segen der Herren!" sagt der bucklige Direktor am Marmortisch. Schließlich wird Albine vom Mörder ihres Vaters erschossen. - Das wird in der Reichshauptstadt aufgeführt, während ringsum die Feinde auf unser Verderben sinnen!

(Zuruf von den Kommunisten: Haben Sie das alles gesehen?)

- Ich habe, wie sie hörten, nach Erich Schlaikjer, einem berufenen Sachverständigen, berichtet. Charles Benneson aus Paris kam, nachdem er durch die Berliner Theater hindurchgekommen war, zu dem furchtbaren Urteil: Berlin ist ein Sterbender, der sich im Kote wälzt!

(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)

Meine Herren, ist es denn nicht möglich, daß eine öffentliche Empörung die französischen Lustspiele wenigstens in diesen Wochen verhindert? Ist es nicht möglich, daß zum mindesten es durch die Devisenverordnung ausgeschlossen wird, daß die Tantiemen an diese Pariser Schmutzspieldichter unausgesetzt hinübergesandt werden müssen.

(Zuruf von den Kommunisten.)

Wir haben ein brauchbares Lichtspielzensurgesetz. Aber am Zoologischen Garten im Ufa-Palast, also in einer Gründung, an der Reichsgeld beteiligt ist, kann man es erleben, daß an einem Abend hintereinander die Chaplinquelle und ein Film "Judas" aufgeführt wird, also unmittelbar hintereinander der amerikanische Possenreißer und die drei Kreuze auf Golgatha.

Und nun die ungestört wuchernde Schmutzliteratur! Eine vom Berliner Ausschuß zur Bekämpfung der Schundliteratur und des Kinowesens herausgegebene Liste bringt es auf 118 Nummern von Verlagsbuchhandlungen. Lizentiat Württemberg behauptete unlängst im Sieger "Volk", daß 70 Prozent des ganzen für den deutschen Buchdruck bestimmten Papiers für Schmutz- und Schundliteratur verbraucht werden.

(Hört! Hört! und sehr richtig!)

Unlängst wieder sind solche Schmutznester in Stendal und in der Berliner Oranienstraße ausgehoben worden. Ehre und Dank jedem Beamten der Polizei, der dies ebenso undankbare wie nötige Geschäft tut!

(Bravo! rechts.)

Über die Schamlosigkeit des großstädtischen Straßenlebens will ich nur eines, die Denkschrift der Kaffeehausbesitzer von Groß-Berlin an das Ministerium des Innern in einem Schlusssatz anführen: Es wirft ein eigenartiges Licht auf unsere Zustände, wenn man nachts das


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