1. Reichstag, Weimarer Republik


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(Sehr richtig! links und bei der Bayerischen Volkspartei.)

Aber das ist eine Folge des Krieges, verehrte Anwesende, das sollen Sie sich merken.

(Sehr wahr! links. - Lachen rechts.)

Meine Damen und Herren! Man liest sehr oft - und darauf muß mit einem Wort noch eingegangen werden - der orgiastisch rasende Vergnügungstaumel unserer Zeit sei dem Bestreben entsprungen, sich über die Schwere der Zeit gewaltsam hinwegzutäuschen. Das stimmt nicht, denn die, die die Schwere der Zeit am meisten empfinden, haben nicht die Mittel, und diejenigen, die von Begierde zu Begierde und von Genuß zu Genuß taumeln, haben keine Sorge, am allerwenigsten ist es die Not des Vaterlandes, um die sie sich sorgen,

(Sehr wahr! links)

Denn sie verdienen ja gerade an der Not des Volkes. "Nach uns die Sintflut!" Aber, meine Damen und Herren, seien wir uns klar darüber: wenn die Not und das Elend in den breiten Massen des Proletariats von Tag zu Tag immer mehr steigt, insbesondere durch die neuen Steuern, und auf der anderen Seite das provokatorische Auftreten dieser Schiebergesellschaften geradezu aufpeitschend auf diese verelendeten Massen wirkt und wirken muß, dann könnte eines Tages der Augenblick gekommen sein, wo sich die Verzweiflung dieser Massen bemächtigt und Katastrophen herbeigeführt werden können, denen gegenüber Polizei und Militär sich als machtlos erweisen würden. Und ich sage, eine Regierung, die diesem wahnwitzigen provokatorischen Treiben einer, wie ich immer wieder betone, nicht allzu kleinen Schicht des Volkes ruhig zusieht und nicht die Kraft in sich findet, diesem Treiben ein Ende zu bereiten, die hat moralisch jedes Recht verloren, auch nur im geringsten Vertrauen oder Kredit im eigenen Volk zu genießen, auch nicht Vertrauen und Kredit im Ausland. Weiß denn unsere Regierung nicht, welch ungeheure Wirkung dieses Schlemmer- und Luderleben einer nicht gerade geringen Schicht des Volkes gerade im Ausland ausübt? Meine Damen und Herren!3 Sie wissen, daß während des Krieges für die Ärzte so genannte kriegsärztliche Abende veranstaltet wurden, die insbesondere, was sie Fortschritte der Chirurgie, der Verbandslehre usw. anbetrifft, tatsächlich gute Dienste geleistet haben. Aber wozu wurden diese kriegsärztlichen Abende auch sonst noch benutzt? Sie wurden dazu benutzt, um die Ärzte geradezu zu dressieren, wie man am besten das Volk über seinen Ernährungs- und Gesundheitszustand hinwegtäuschen kann.

(Hört! Hört! bei den Kommunisten)

Wie das gemacht worden ist, dafür ein klassisches Beispiel. Einer derjenigen, die einen solchen kriegsärztlichen Abend veranstaltet haben, war der Professor Thieß aus Köln, der an einem solchen


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Abend von der Organisation der Volksernährung im vierten Kriegsjahre gesprochen hat. Dieser Vortrag liegt mir wörtlich im stenographischen Bericht vor. Der Professor fasst am Schluß dieses Vortrags seine Erfahrungen in folgenden klassischen Sätzen zusammen.

Das Auge macht satt, die Phantasie, der Glaube, der Appetit. Erzählen wir den Leuten täglich, wie wenig Kaffee, fast gar keine Schokolade mehr, Kartoffeln knapp, Fleisch wenig, Fett so gut wie gar nicht vorhanden, dann haben also unserer Leute die Hungersnot, wenn man sie ihnen vorredet und ihnen einbildet.

(Zuruf von den Kommunisten.)

sagen wir ihnen dagegen, es wird ja noch so viel deutsches Vieh geschlachtet wie zu der Väter Zeiten, wir haben noch 20 Millionen Rinder mehr als vor einem Jahre und besseres Futter für sie, über 17 Millionen Schweine, voll ausreichende Getreideernte, gefüllte Kornspeicher, Teigwaren und Getreidefabrikate aus Weizen, Hafer und Gerste mehr als in Aussicht: wer das Urteil in diese Bahnen lenkt, wer gut zuredet und mit kaltem Blut die anderen beeinflusst , der kann die Widerstandskraft des Volkes ganz gewaltig stärken
.

(Erneute Zurufe von den Kommunisten.)

Meine Damen und Herren! Da haben Sie die Lösung des so schwer auf uns lastenden ganzen Ernährungsproblems! "Das Auge macht satt, die Phantasie, der Glaube", nach diesem Rezept hat nach meiner Überzeugung auch der frühere Reichsernährungsminister gearbeitet.

(Sehr richtig! bei den Kommunisten.)

Man erzählt sich eine hübsche Geschichte aus Amerika. In Amerika habe einmal ein Farmer in einem Jahr der Futternot seinen Kühen grüne Brillen aufgesetzt, damit sie die ihnen vorgeworfenen Sägespäne als Grünfutter fressen sollten.

(Heiterkeit und Zurufe.)

Ich könnte Ihnen weitere Schilderungen dieses furchtbaren Elends geben.4 Aber eines möchte ich dem Herrn Kollegen Mumm doch sagen: In seinem frommen "Reichsboten", in dem er seine Geistesprodukte fortgesetzt ablagert, erschien vor einiger Zeit von einem Herrn Martin Ulrich ein Artikel unter der Überschrift: "Zum Kindersterben", und was lesen wir in dem Organ des Herrn Mumm?

An dem Elend ihrer Kinder sind die Arbeiter, sind die Eltern selbst schuld.

(Erregte Rufe links: Hört! Hört!)

Die Eltern, namentlich die Mütter, haben weder die Lust noch die Fähigkeit, ihren Pflichten gegen die Kinder nachzukommen. Bereits im Mutterleibe werden die Kinder des Proletariats misshandelt und kommen aus diesem Grunde schon elend zur Welt.


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