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usw. Und den Gipfelpunkt der Gemeinheit erreicht dieses Blatt, indem es am Schluß schreibt:
Die hohen Löhne ermöglichten es den Eltern, allerlei kostspieligen Vergnügungen nachzugehen, während die Kinder ins Zimmer
eingeschlossen oder auf die Straße verbannt der Verwahrlosung ausgesetzt sind.
(Unruhe und Zurufe auf der äußersten Linken.)
Das ist Ihre Moral, das ist ihre Sittlichkeit, Herr Mumm!
Gebt den breiten Massen des Proletariats genug zu essen,5 versteuert nicht fortgesetzt die allernotwendigsten Lebensmittel!
(Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Entzieht den Säuglingen nicht die Milch und den Zucker, die jetzt für die Proletarier unerschwinglich sind!
(Erneute Zustimmung bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Laßt die Kinder des Proletariats nicht ohne Hemd auf dem Leibe herumlaufen! Befreit die Ärmsten der Armen von der furchtbaren
katastrophalen Wohnungsnot!
(Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Das sind unsere Begriffe von Moral und Sittlichkeit! Solange aber diese Verhältnisse nicht gegeben sind, so lange werden wir
auch nichts erreichen durch Sonntagsnachmittagsreden und auch nichts durch den ständigen Hinweis auf die so genannte Moral
und Sittlichkeit. Denn diese Begriffe von Moral und Sittlichkeit sind nichts Feststehendes.
(Hört! Hört! bei den Deutschnationalen.)
Es gibt keine absolute Moral, es hat nie eine gegeben. Herr Kollege Mumm! Zu allen Zeiten und bei allen Völkern sind die
Begriffe von Moral und Sittlichkeit wandelbar gewesen. Was heute als erlaubt, als unanstößig gilt, galt früheren Zeiten als
unerlaubt und als anstößig. Und nicht nur innerhalb der verschiedenen Zeiten und Völker sind die Begriffe von Moral und
Sittlichkeit wandelbar, nein, auch innerhalb der verschiedenen Klassen ein und desselben Volkes.
(Zustimmung bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Meine Damen und Herren (nach rechts,6 das Volk hat kein Verständnis für die Auffassung, die Sie über Moral und Sittlichkeit
haben. Sie haben kein Interesse daran, diese Moral und Sittlichkeit, die im Kriege durch das Hinschlachten von Millionen von
Menschen im Interesse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung Schiffbruch erlitten hat, immer weiter noch aufrecht zu erhalten.
Die Arbeiterschaft weiß, daß sie aus all dem Elend der Jetztzeit nicht herausgeführt werden kann durch öde Gesetzesmacherei,
auch nicht durch Sonntagsnach-mittagsreden, daß die angebliche Unmoral im Volke - diese Unmoral, die weniger in den breiten Massen
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des Volkes vorhanden ist als gerade in den Kreisen, die immer gegen die Unmoral zetern - einzig und allein durch den zähen,
energischen Klassenkampf gegen die Besitzenden, den Klassenkampf, der national und international geführt werden muß, bekämpft werden kann.
Wir haben die feste Überzeugung,7 - und das, Herr Mumm, ist unsere Religion, ist unsere Moral, ist unsere Sittlichkeit,
das ist der Glaube des Proletariats -, daß aus diesem Kampfe siegreich hervorgehen wird der Sozialismus, die Befreiung der ganzen Menschheit.
(Lebhafter Beifall bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Vizepräsident Dittmann: das Wort hat der Herr Reichsminister des Innern.8
Dr. Köster, Reichsminister des Innern: Meine Damen und Herren! Wenn wir vor der Frage stehen, ob wir der moralischen
Entartung - wenn ich mich so ausdrücken darf -, die wir in diesen Zeiten vor uns sehen, mit neuen gesetzgeberichen Mitteln
zu Leibe rücken sollen. So haben wir uns zunächst zu fragen, ob wir es nicht mit einer Erscheinung zu tun haben, von der
wir glauben können, daß sie vorübergehend, historisch bedingt und aus ganz bestimmten geschichtlichen Phänomenen entstanden
ist und höchstwahrscheinlich wieder verschwinden wird, wenn die Grundlagen, aus denen heraus sie entstanden ist, wieder
verschwinden. Meine Damen und Herren! Ich bejahe die Frage. Wir müssen uns alle darüber klar sein, daß die bedauerlichen
Erscheinungen unseres sittlich-moralischen Lebens, die wir heute sehen, in erster Linie als direkte Folgen des Krieges angesprochen werden müssen.
(Sehr wahr! links.)
Meine Damen und Herren! Es würde eine sehr interessante soziologische Studie werden, zu untersuchen, wie der Krieg mit
seinen Begleitumständen in seinen militärischen und wirtschaftlichen Formen eine Lockerung der bisherigen moralischen
Bindungen in Bezug auf Eheleben, in Bezug auf das geschlechtliche Leben überhaupt, unbedingt hat zur Folge haben müssen.
Stellen Sie sich die Tatsachen vor, daß Millionen von Ehemännern monate- und jahrelang von ihren Frauen getrennt in anderen
Ländern hinausgeworfen waren. Stellen Sie sich die Tatsache vor, daß Hunderttausende und Millionen von Kriegsgefangenen nach
Deutschland, nach Frankreich, nach Russland hineingeschleudert wurden, in Länder, die zum Teil von Männern entblößt waren.
Rufen Sie in Erinnerung zurück, was Sie alles - und das trifft für die anderen Kriegschauplätze und die anderen Länder auch
zu - während des Krieges draußen bei unseren Soldaten gesehen haben und was man durchaus nicht immer als moralische Entartung
zu bezeichnen braucht.
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8S. 6890A/B
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