Mittwoch den 05. April 1922
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Moses.1
Dr. Moses, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! Der Herr Reichskanzler hat davon gesprochen, daß diese neue Gesellschaft
nur eine kleine Schar im deutschen Volke bilde. Ich bestreite das ganz entschieden. Diese neue Gesellschaft der Schieber
und Kriegsgewinnler, derjenigen, die während des Krieges, am Kriege und durch den Krieg so plötzlich reich geworden sind,
hat einen viel größeren Umfang, als man es vielleicht im falsch verstandnen Interesse der Auslandspolitik zugestehen möchte.2
(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Und diese Schicht, diese neue Gesellschaft, hat unser ganzes geistiges Leben unserer früheren Kunststätten längst erdrosselt,
und unsere Tagespresse hat nicht den Mut, gegen solche Unkultur wie das Sechstagerennen aufzutreten, aus Furcht, eine Spalte
Inserate zu verlieren. Das Geschäft regiert den Geist unserer Presse.
Meine Damen und Herren" Eine solche Sportfexerei, wie sie heute getrieben wird, ist wahrlich nicht dazu angetan, dem
deutschen Namen Ehre zu machen. Soll dadurch etwa unsere Stellung im Rate der Völker wieder hergestellt werden? Was soll
das Ausland von uns denken, wenn wir uns selbst hierdurch zum Gegenstand des Hohns, des Spottes und des Gelächters machen?
Auf den Gesellschaftsabenden des Vereins Berliner Presse und auf den Gesellschaftsabenden der Bühnengenossenschaften,
Sonnabend vor acht Tagen - Eintrittspreis 1000 bis 2000 Mark pro Platz -
(hört! hört! links)
wird ein Protzentum entwickelt, das geradezu ekelerregend genannt werden muß.
(Zustimmung.)
Die "Vossische Zeitung" schreibt über das Fest der Bühnengenossenschaften in einem langen Artikel unter anderem:
Die Träger des neuen In- und Auslandsreichtum geben sich bei dieser Nachtvorstellung ein Stelldichein und man sah manchen
Pelzmantel, der sicher seine Million gekostet hat.
(Hört! Hört! und Zurufe auf der äußersten Linken.)
Die Proletarierkinder haben im wahren Sinne des Wortes kein Hemd auf dem Leibe, und diese Schiebergesellschaft trägt ein Protzentum zur Schau
1Bd.154,S. 6880B
2S. 6881B
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auf Festlichkeiten, an denen sich leider auch Vertreter von der Regierung beteiligen.
(Zuruf rechts.)
- Wir kommen auf diese neue Republik als die Erbschaft des Kaisertums noch zu sprechen.
Wenn es Tiere gewesen wären, die das Sechstagerennen zu bestreiten gehabt hätten, dann wäre wahrscheinlich der Tierschutzverein
eingeschritten. So aber sind es keuchende Menschen auf dahinrasenden Vehikeln, denen vom Publikum Preise auf Preise ausgesetzt
sind, selbst von neun bis elfjährigen Lausbuben, von denen im Hauptausschuß mit Recht gesagt worden ist, daß die Reichregierung
die Verpflichtung habe, Eltern, die ihre Kinder zu solch schandbarer Tätigkeit missbrauchten, das Erziehungsrecht zu nehmen und
sie in die Fürsorge zu stecken. Geldpreise, Sektpreise, Weinpreise - eine Münchener Brauerei hat für jeden Fahrer einen
Hektoliter Bier gestiftet - Ruhm, Lorbeeren, tägliche Bulletins in den Zeitungen und auf den Tribünen ein tausendfaches
Publikum oder richtiger gesagt Pöblikum, zum Teil sechs Tage und sechs Nächte hindurch diesem wahnsinnigen Treiben zuschauend -
wahrlich ein herrliches Bild von dem Treiben einer nicht allzu kleinen Oberschicht in diesem Volke der Dichter und Denker.
(Sehr wahr! links.)
Was geht die Leute die Hungersnot in Russland an, was kümmert sie die Tatsache, daß 20 Millionen Menschen drüben dem Hungertode
verfallen sind? Was interessiert die Leute das langwierige und langweilige Reparationsproblem? Solange wir - Gott sei dank -
noch Sechs-Tage-Rennen veranstalten können, ohne daß uns Lloyd George und Kollet darein zu reden haben, da hat's keine Not im
deutschen Volke! Ja, wir sind schon ein Kulturvolk! Und wenn beim Sechs-Tage-Rennen, wie uns die Presse getreulich berichtet hat -
das ist eben die hohe Mission, die volkserzieherische Aufgabe der Presse -, in der Nacht vom Dienstag zu Mittwoch der Wirt des
Sportpalastes dem in qualvoll fürchterlicher Enge zusammengedrängten Publikum die furchtbare, Entsetzen erregende Nachricht
übermitteln musste, daß kein Sekt mehr vorhanden sei,
(hört! hört! links)
so wird ihm einige Tropfen Balsam in die brennende Wunde die Tatsache gewährt haben, daß die Direktion des Sportpalastes in
jener Unglücksnacht, wie uns die Presse berichtet hat, 1 146 000 Mark bloß an Eintrittsgeldern zu verbuchen gehabt hat.
(Hört! Hört! links.)
Meine Damen und Herren! Dieses Treiben ist ein Skandal ohnegleichen. Und schon ist das Sechs-Tage-Rennen überholt.
Wir haben in den letzten Tagen gelesen, daß wir jetzt vor einem Sechs-Tage-Tanztournier stehen, und was alles sonst
noch in der Zeiten Schoße schlummert: Sechs-Tage-Wettessen, Sechs-Tage-Wetttrinken, und es soll sogar nach Mitteilung
der Presse demnächst ein Stiergefecht in Berlin veranstaltet werden. Ja, die Spekulation auf die brutalsten menschlichen
Instinkte gedeiht bei uns im neuen Deutschland vortrefflich.
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