1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 274. Sitzung. Sonnabend den 22. November 1922

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274. Sitzung. [i]


Besprechung der Erklärung der neuen Reichsregierung.

Vizepräsident Dr. Bell: Das Wort hat der Herr Abgeordnete v. Graefe (Mecklenburg).

v. Graefe (Mecklenburg), Abgeordneter: 1 Vom Standpunkt der rage du nombre, die das parlamentarische Regime beherrscht, kann der Herr Reichskanzler gewiß keinen großen Wert darauf legen, zur Verbreiterung der Sitzgelegenheit seines Kabinetts auch den völkischen Dreifuß noch untergeschoben zu erhalten.

(Stürmische Heiterkeit.)

Aber immerhin, meine Damen und Herren, auch gerade von der Linken des Hauses, Ihre eigenen Reden, die Sie bei Gelegenheit der Geschäftsordnungsdebatte hier gehalten haben, haben zur Genüge erkennen lassen, daß auch Sie bemerken, daß das Ansehen die Macht des Parlaments in letzter Zeit nicht gerade an entscheidender Bedeutung gewonnen hat.

(Sehr richtig! bei den Deutschvölkischen.)

Von diesem Standpunkt aus wird vielleicht auch der Reichskanzler doch ein gewisses Interesse daran haben müssen, die Stimmung, die in diesem hohen Hauses numerisch nicht zahlreich vertreten sind, aber draußen im Lande an wachsender Bedeutung gewinnt, nicht ohne weiteres zu mißachten. Die Legitimation, die meine engeren politischen Freunde für ihre hiesige besondere Vertretung entnehmen, beruht auf dem Glauben und auf der festen Überzeugung, daß sich im Volke draußen eine Bewegung vollzieht, die von wachsender Bedeutung auch vielleicht einmal für die spätere Zusammensetzung dieses Hauses sein wird. Darum glauben wir, daß wir hier, auch wenn wir im Hause zurzeit zahlenmäßig noch schwach sind,

(Zuruf von den Vereinigten Sozialdemokraten)

- auch Sie haben einmal sehr klein angefangen - doch eine Stimmung im Lande Ausdruck geben, die man getrost als eine Volksbewegung bezeichnen kann. Ich bin der Überzeugung, daß in dem Suchen nach dem Wege, aus der Katastrophe herauszukommen, die uns der Herr Reichskanzler gestern hier mit ernsten Worten geschildert hat, vorwiegend zwei Gruppen im Lande zu unterscheiden sind, die nach zwei ganz verschiedenen Methoden die Heilung suchen, und von ihrem Standpunkte aus natürlich ehrlich glauben, jede auf dem rechten Wege zu sein. Aber ich glaube, daß


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diese beiden Gruppen nichts zu tun haben mit der Gruppierung der Parteien, wie wir sie derzeit im politischen Leben und hier im hohen Hause haben. Die eine dieser Richtungen sucht den Ausweg in erster Linie und vielleicht ausschließlich in einem werbenden Tanz um das goldene Kalb des internationalen Großkapitals.

(Zurufe von den Vereinigten Sozialdemokraten)

- Ach, meine Herren, Sie von der Linken sollten das nicht so selbstgerecht belachen; denn an diesem Tanz sind auch sehr prominente Führer Ihrer Partei vielleicht besonders malerisch beteiligt. -

(Sehr richtig! bei den Deutschvölkischen.)

Ich erinnere daran, daß der Führer der Partei, die sich als antikapitalistisch bezeichnet, Herr Hermann Müller, in diesem Hause selbst davon gesprochen hat, daß man die Gunst des internationalen Großkapitals erwerben müsse.

(Lachen bei den vereinigten Sozialdemokraten.)

- Ja, Sie lachen über sich selbst. Er hat es wörtlich so ausgesprochen. Ich erinnere weiter daran, daß die Demokratische Partei in dieser Richtung selbstverständlich als Hauptexponent der Bankwelt eine führende Rolle spielt. Die ganze Zentrumspolitik des Kanzlers Wirth war auch auf diese internationalen Bank- und Finanzkonferenzen eingestellt. Herr Stresemann hat noch vor kurzem in Braunschweig eine Rede gehalten, in der auch er seine Hoffnung auf die internationale Finanzwelt aufgebaut hat, und bis in die Kreise der Deutschnationalen Partei hinein, stehen prominente Politiker diesem Standpunkte nahe. Eine völkische, idealistische Richtung, das ist der Gegenpol gegen die einseitig kapitalistische internationale Einstellung für die Wiedergeburt unseres deutschen Vaterlandes. 2 Auch diese Richtung ist sich durchaus bewußt, daß ohne die gesunde Ansammlung produktiven Kapitals ein wirtschaftlicher Aufbau nicht möglich ist. Aber was diese Richtung nicht will und vor allen Dingen bekämpft, ist die Führung durch die internationale großkapitalistische Macht der Welt. Sie will die andere Reihenfolge; sie weiß ganz genau, daß, wenn das Volk erst einmal zu einer völkischen Geschlossenheit, zu einem Erwachen seines Volkstums kommt, auch zu gemeinsamer produktiver Arbeit und damit zu der Vorbedingung einer Wiedergeburt kommen wird, und daß dann die gesunde, weil produktive, nicht nur spekulative Kapitalkraft, soweit sie zu dem wirtschaftlichen Wiederaufbau nötig ist, sich ganz von selbst dorthin begibt, wo gearbeitet, wo geschafft, wo produziert wird; sie geht nicht in die Wüste Sahara, wo kein wirtschaftliches Leben ist. Jedes Kabinett, jede Politik, die nicht die Pflege dieses völkischen Erwachens sich als erste Aufgabe stellt, ist nach unserer Überzeugung zum Scheitern verurteilt.

(Sehr richtig! bei der Völkischen Gruppe.)

Wer sich allein auf den Boden des Wiederaufbaues der internationalen Finanzkräfte stellt, der kann nicht diejenigen Schädlinge bekämpfen, die die Spaltung,


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