1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 286. Sitzung. Sonnabend den 13. Januar 1923

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286. Sitzung. [i]


Ansprache des Präsidenten anlässlich der Ruhrbesetzung. Die Sitzung wird um 2 Uhr 41 Minuten durch den Präsidenten Löbe eröffnet.1

Präsident: Ich eröffne die Sitzung des Reichstags, die Stellung nehmen soll zu dem empörenden militärischen Gewaltakt, der unserem Land und unserem Volk in diesen Tagen widerfährt. Ohne den Verhandlungen des Hauses vorzugreifen, in denen jede Partei für sich und von ihrem Gesichtspunkt aus zu dem Attentat auf den Frieden Mitteleuropas Stellung nehmen wird, möchte ich mir ein Wort erlauben, ein Wort an die Landsleute an der Ruhr, die zuerst und am härtesten durch diesen Rechtsbruch in Not und Leid gezogen werden.

(Zustimmung.)

Wir möchten ihnen zurufen: "Haltet euch so, daß an dem Tage, an dem die Fremdherrschaft von euch genommen wird, ihr vor euch selbst, daß eure Kinder von euch bekennen können: unsere Väter haben mit Festigkeit und Treue, mit Stolz und Würde aufrecht gestanden, als dieser Schlag gegen sie geführt wurde;

(lebhafter Beifall - das Haus mit Ausnahme der Kommunisten und einiger Sozialdemokraten erhebt sich)

Sie haben weder durch unmännliche Liebedienerei und Unterwürfigkeit, noch durch Unbesonnenheit den Namen unseres Volkes geschändet. Haltet euch so, daß ihr, wenn auch äußerlich geknechtet, euch innerlich frei ins Auge sehen könnt!" Vor der Welt aber, die diesem Gewaltstreich als untätiger Zuschauer gegenübersteht, vor der Geschichte weisen wir darauf hin, daß hier ein Streich geführt wird gegen den Frieden eines Landes, gegen Freiheit und Recht seiner Bewohner, der seinen Stachel in sich trägt nicht nur gegen uns, sondern gegen alle, die eine ruhige Entwicklung wollen,

(lebhafte Zustimmung)

daß er die verhängnisvollsten Folgen für den allgemeinen Frieden haben muß.

(Sehr wahr!)

Wenn ich als deutscher Volksvertreter ein Recht hätte, zum französischen Volk zu sprechen - dieses Recht haben unsere Gegner während des Krieges in unbeschränktem Maße in Anspruch genommen -, dann würde ich sagen: "Prüft! Prüft selbst, ob der Weg, den eure Machthaber einschlagen, der ist, der euch zu eurem Recht, zu euren Ansprüchen,


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Frieden und Ruhe führen kann! Prüft selbst, ob er nicht Verbitterung, Haß und Wut wecken, aber auch das Unvermögen zur Erfüllung anderer Ansprüche hervorrufen muß! Ihr und wir, eure Nachkommen und die unseren werden die furchtbaren Folgen zu tragen haben, die dieser Drachensaat entsprießen.

(Sehr wahr!)

Deshalb macht es rückgängig, macht rückgängig das Unrecht, das ihr an uns verübt, mit all dem anderen der letzten Jahre, eh es uns und euch verschlingt!"

(Lebhafte Zustimmung und Beifall.)

Wir treten in die Tagesordnung ein: Entgegennahme einer Erklärung der Reichsregierung. Zu dieser Erklärung hat das Wort der Herr Reichskanzler.2

Dr. Cuno, Reichskanzler: Geehrte Damen und Herren! Vorgestern, am 11. Januar 1923, drangen französische und belgische Truppen in zwei Hauptkolonnen in freies deutsches Gebiet ein,

(Pfuirufe)

überschritten die Grenzen, die nach Art. 428 des Vertrags von Versailles der Besetzung durch die Truppen der alliierten und assoziierten Mächte gezogen sind, ja sogar die vorgesehene Grenze des Gebietes, das im Widerspruch mit diesen Bestimmungen unter Namen der Sanktionen seit März 1921 in die Besetzung einbezogen worden ist. Die Truppen waren kriegsmäßig ausgerüstet

(hört! hört!)

und führten außer ihren Feldküchen Munitionsfahrzeuge, Gerät, Gepäck und Lazarettwagen mit sich.

(Hört! Hört! Und Bewegung.)

An der Spitze marschierten Kavallerieabteilungen mit gezogenem Säbel

(erneute Pfuirufe)

und Radfahrabteilungen. Auf dem Marktplatz in Essen fuhren Panzerwagen auf, Maschinengewehre wurden in Stellung gebracht, der Belagerungszustand verhängt, für jede Übertretung der militärischen Gesetze gerichtliche Bestrafung angedroht.

(Erregte Zurufe.)

Die Transportbewegungen begannen am 7. Januar. Beteiligt am Vormarsch sind zwei Infanteriedivisionen und eine Kavalleriedivision von seiten Frankreichs und belgische Abteilungen aller Waffengattungen. Dieser Vormarsch vollzog sich mit allen kriegsmäßigen Sicherungen einem Lande und einem Volke gegenüber, das die Entwaffnung durchgeführt hat und friedlicher Arbeit gewidmet ist und das nicht daran denken konnte und nicht daran gedacht hat, der bereitgestellten Armee französischer-belgischer Truppen auch nur einen Mann oder ein Gewehr entgegenzustellen.


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