Freitag den 10. Dezember 1920
Fortsetzung der zweiten Beratung des
Reichshaushaltsplans für 1920
Ernährungsministerium 1
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Reich. 2
Reich, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! Mit einer Komödie wurde der erste Akt der Ernährungsdebatte
eingeleitet. Was in diesem Hause weiter gesagt worden ist, war nichts mehr und nichts weniger als ebenfalls eine
Komödie; denn man hat versucht, der großen Masse der deutschen Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen. Man hat
über die wirklichen Verhältnisse kein klares Bild gegeben, sondern man hat, wie es bisher schon immer der Fall
gewesen ist, in diesem hohen Hause eine Politik getrieben, die das deutsche Volk von Monat zu Monat immer tiefer
in das Elend hineingetrieben hat.
In der im Scherlchen Verlag erscheinenden Wochenschrift "Der Wegweiser" ist folgendes zu lesen:3
Das diesjährige Weihnachtsfest steht unter keinem günstigen Zeichen. Teuerung und Arbeitslosigkeit mit den an und für sich
trüben wirtschaftlichen Verhältnissen zwingen die Bevölkerung, nur das Notwendigste für den täglichen Gebrauch anzuschaffen.
Trotzdem gibt es eine Klasse, die bei der allgemeinen Lebensmittelknappheit ihren Wohlstand zu heben wußte, deren Erzeugnisse
zu nie gekannten Preisen abgesetzt werden konnten und die deshalb heute das stärkste Rückgrat des deutschen Wirtschaftslebens
bilden: die Landwirte. Diesen Umständen sollen wir Rechnung tragen. Die Landbevölkerung, die stets auf auswärtige Geschäfte
angewiesen war, ist heute, wo sich das Geld auf dem Lande befindet, der dankbarste Käufer jeder Art von Waren. Ihr Wohlstand
erlaubt es ihr, sich jeden Luxus leisten zu können.
(Hört! Hört! bei der U.S.P. [Linke])
So wird in diesem Artikel geschrieben, in einer Zeitung, die hauptsächlich bei den Bauern auf dem Lande zur Verbreitung kommt
und die ja die Verhältnisse genau kennen muß.
1Bd. 346, S. 1581B
2S. 1590A
3S.1590C/D
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Von Tag zu Tag vermehrt sich heute die Zahl derer, die Hungers sterben müssen.4 Das könnte durch unzählige
Beispiele bewiesen werden. Wenn wir heute so traurige Verhältnisse in Deutschland haben, so muß hier von
dieser Stelle ausgesprochen werden, daß dieses hohe Haus an dieser verbrecherischen Ernährungspolitik,
die heute Millionen zum Hunger zwingt, mitbeteiligt ist.
(Hört! Hört! bei der U.S.P. [Linke] )
Wir haben oft genug gesehen, wie leicht man die Ernährungsfrage, diese brennendste Frage für unser Volk, hier behandelt.
In den letzten Tagen sind überall Aufrufe zu Sammlungen für die Elenden, für die Notleidenden erfolgt. Der deutschdemokratische
Herr Gothein schrieb in einer der letzten Nummern des "Berliner Tageblattes", daß 90 Prozent der Kinder in den Mittelschulen
und insgesamt 80 Prozent aller Kinder an starker Unterernährung und auffallender Blutarmut leiden.
(Hört! Hört! bei der U.S.P. [Linke].)
Etwa ein Viertel aller Kinder können sich infolge allgemeiner Schwäche der Rückenmuskeln, der Wirbelsäule, nicht mehr aufrecht halten.
In Breslau wurde festgestellt, daß von 108.000 Schulkindern die Hälfte unterernährt ist,
(hört! hört! bei der U.S.P. [Linke])
in Karlsruhe, daß von 20.300 Kindern etwa 15.000 unterernährt sind, und so geht es weiter in allen Städten. In Chemnitz
im Erzgebirge, zum Beispiel, befinden sich unter 18.750 schulärztlich untersuchten Kindern nur 1.635, die überhaupt normal ernährt sind.
(Hört! Hört! bei der U.S.P. [Linke].
Verehrte Anwesende! Vor kurzem hat ein Professor eine Statistik veröffentlicht, in der er darauf hinweist, daß die
Blindenheime heute nicht mehr ausreichen, um die erblindeten Kinder unterzubringen. Er weist darauf hin, daß man
Notstandsbaracken für diese erblindeten Kinder errichten mußte. Er beweist ferner, daß die zunehmende Erblindung
der Kinder eine Folge der Skofulose, die Skofulose wiederum eine Folge der Unterernährung ist, die besonders darauf
zurückzuführen ist, daß der menschliche Körper zu wenig Fett gehabt hat, und daß diese Krankheit in erster Linie das
Augenlicht vernichtet.
Vor kurzem wurde bei einer Schuluntersuchung in Hamburg festgestellt, daß in einer Klasse 9 Knaben und Mädchen vorhanden waren,
die kein Hemd auf dem Leib hatten.
(Hört! Hört! bei der U.S.P. [Linke].)
So verstehe ich es einfach nicht, wie man angesichts der skandalösen Zustände im Erzgebirge, wo man die Kinder nicht
bekleiden und ernähren kann, daß man heute Wohltätigkeitsfeste in Deutschland veranstaltet.
Verehrte Anwesende!5 Man veranstaltet in Deutschland Wohltätigkeitsfeste zu hohen Eintrittspreisen. bei denen sich die
feisten Bürger mit ihren Damen die ganze Nacht hindurch amüsieren,
(hört! hört! bei der U.S.P. [Linke] )
bei Champagner und Sekt. Und wenn sie am nächsten Morgen mit schwer behangenem Kopf im Auto nach Hause fahren, dann tragen
sie das stolze Bewußtsein in
4S. 1591A/B
5S. 1591C
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