1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 54. Sitzung. Sonnabend den 22. Januar 1921.

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54. Sitzung. [i]


Sonnabend den 22. Januar 1921


Präsident:Wir kommen zum zweiten Gegenstand der Tagesordnung, zur ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes vom 29. März 1920 1

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Keil.

Keil, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! 2 Namens meiner Fraktion beantrage ich, diesen Gesetzentwurf wegen seiner Komplexität an den Steuerausschuß zu verweisen. Diese Verweisung ist selbstverständlich und bedarf keiner näheren Begründung. Meine Fraktion hat jedoch auf eine Generaldebatte nicht verzichten können. Die Vorlage ist zwar sehr kompliziert, sie behandelt schwierige Fragen der Steuerpolitik, die sich zu einer Generaldebatte schlecht eignen, die vielmehr nur im Ausschuß eingehend, gründlich und gewissenhaft geprüft werden können. Aber sie behandelt doch auch einige Fragen, die im Hinblick auf ihre materielle Bedeutung verdienen, zunächst einmal hier in der Volksversammlung einer allgemeinen Würdigung unterzogen zu werden. Zunächst also einige Bemerkungen unmittelbar auf Vorlage! Das neue Einkommensteuergesetz befand sich noch keine 9 Monate in Kraft, als diese, wenn ich nicht irre, dritte Novelle zu dem Gesetz von der Regierung uns vorgelegt wurde. Die Gegner des neuen deutschen Steuersystems höhnen und spotten über die Reformbedürftigkeit der im vorigen Jahre geschaffenen Gesetze. Wenn nun infolge des politischen Schicksals 3 des deutschen Volkes ein vollständig neues Steuergebäude errichtet werden mußte mit einem Dutzend oder noch mehr überaus wichtiger, schwerwiegender und weittragender Einzelsteuern, und wenn das in so viel Monaten geschehen musste, wie frühere Jahre zu einem einzigen großen Steuergesetz gebraucht wurden, wenn dazu ein vielfach neuer Behördenapparat und eine neue Organisation der Steuerbehörden geschaffen werden musste, und wenn sich das alles in einer Zeit größter Nervosität und allgemeiner Umwälzung vollzieht, in einer Zeit, in der es nichts Beständigeres gibt als den Wechsel, in einer Zeit in der überdies in wenigen Monaten die Kaufkraft des Geldes die katastrophalste


1Bd.347, S. 2011A
2S. 2011C/D
3S. 2012A

Erschütterung erleidet, dann ist es wahrlich kein Wunder, daß sich alsbald nach dem Zustandekommen der neuen Steuergesetze Änderungen als dringende Notwendigkeit erweisen. Unmittelbar nach, eigentlich schon während der Beratungen über das Einkommensteuergesetz begann die beispiellose Senkung der Kaufkraft des Geldes,4 der allerdings gewisse Lohnerhöhungen gefolgt sind und folgen mußten. Aber die Lohnerhöhungen im Verlauf des ersten Halbjahres 1920 haben nicht verhindern können, daß der Reallohn der deutschen Arbeit enorm gesunken und damit die Lebenshaltung der deutschen Arbeiter verschlechtert worden ist.

(Sehr richtig! Bei den Sozialdemokraten.)

Auf der einen ein Sinken des Reallohnes, eine Verschlechterung der Lebenshaltung, auf der anderen eine große Steigerung der Steuerlast, die durch die Steigerung des Nominallohnes bewirkt wird, auf den die steigenden Sätze des progressiven Tarifs Anwendung finden! Aus der großen Verschlechterung der Lebenshaltung5 der Arbeiterschaft erklärt sich auch wesentlich der starke Widerstand, der von der Arbeiterschaft im Sommer vorigen Jahres gegen den automatischen Steuerabzug vom Lohn geleistet worden ist. Das war eine instinktive Bewegung, die eigentlich politisch nicht überlegt war. Die Arbeiterschaft wehrte sich einmal dagegen, daß ihr sofort und unmittelbar die Steuern abgenommen wurde, andererseits dagegen, daß die Lasten, die sie tragen sollte, in keinem Verhältnis zu ihrer Leistungsfähigkeit standen. Nun ist inzwischen der Steuerabzug unter Aufgebot eines großen staatlichen Machtapparats eingetrieben worden. Das ist aber erst in der Mitte des laufenden Rechnungsjahres geschehen6 . Für die ersten Monate dieses Rechnungsjahres hat ein Steuerabzug also auch eine Steuerleistung der Lohn- und Gehaltsempfänger, nicht stattgefunden. In den späteren Monaten hat in sehr vielen Fällen der abgezogne Steuerbetrag die bei der Veranlagung sich ergebende Steuerschuld nicht voll gedeckt. Die Folge wird sein, daß bei der jetzt beginnenden Veranlagung sich Schuldreste steuerpflichtiger Arbeiter und Beamten von vielen Hunderten von Mark, ja von tausenden von Mark ergeben werden. Was soll mit diesen Schuldresten geschehen? Herr Reichsfinanzminister? Die Vorlage schweigt sich darüber aus. Sollten sie auf dem Wege der Pfändung eingetrieben werden? Ich nehme an, der Herr Reichsfinanzminister ist mit mir einer Meinung, daß das einfach ein Ding der Unmöglichkeit ist?

(Sehr richtig! Bei den Sozialdemokraten.)

Ich glaube, es wird nichts anderes übrig bleiben, sowohl aus sozialen als auch aus verwaltungstechnischen Erwägungen, als einfach bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze, die nicht zu niedrig bemessen sein darf, vielleicht 30.000 Mark, sämtliche Steuerreste aus dem Jahre 1920 zu streichen.

(Sehr richtig! Bei den Sozialdemokraten.)


4S. 2014B
5ebd.
6S. 2014C


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