1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 72. Sitzung. Dienstag den 1. März 1921.

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72. Sitzung. [i]


Dienstag den 1. März 1921


Präsident: Wir kommen zum zweiten Gegenstand der Tagesordnung: Fortsetzung der zweiten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes, betreffend die Feststellung des Reichshaushaltsplans für das Rechnungsjahr 1920. 1

In der Fortgesetzten Beratung hat das Wort der Herr Abgeordnete Keil.

Keil, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! Die besondere Aufmerksamkeit, die neuerdings und wohl auch noch auf geraume Zeit hinaus das Ausland unseren Finanzen widmet, muß auch uns veranlassen, uns noch gründlicher als bisher mit den Fragen unserer Etatswirtschaft zu beschäftigen. 2 Auf der Brüsseler Konferenz, die ich schon erwähnte, scheint mir, meine Damen und Herren, nicht die richtige Taktik zur Wahrung unserer finanzpolitischen Selbständigkeit eingeschlagen worden zu sein. 3 Nach dem Druckbande über die Brüsseler Sachverständigenkonferenz, der in unseren Händen ist, hat der deutsche Staatssekretär Schröder als Vertreter des Reichsfinanzministeriums dort auf die Frage des Vorsitzenden Delacroir, ob man nicht durch Einschränkung der Papierzirkulation die schwebende Schuld in Deutschland vermindern könne, geantwortet, mit direkten Steuern könne man hier nichts mehr machen; eine andere Frage sei aber die, ob nicht die Umsatzsteuer und die indirekten Steuern überhaupt erhöht werden können.

(Hört! Hört! links.)

Und der Staatssekretär Schröder hat, wie sich aus diesem Drucksachenbande jeder überzeugen kann, diese Erklärung fast ein halbes Dutzendmal wiederholt und immer wieder versichert, bei den indirekten Steuern bestehe wohl die Möglichkeit, die Einnahmen Deutschlands zu erhöhen.

(Hört! Hört! links)

Dieser selbe Staatssekretär hat dort - das erwähne ich nur ganz nebenbei - gelegentlich auch seine Pfeile gegen den Achtstundentag in Deutschland gerichtet.

(Lebhafte Rufe linke: Hört! Hört!)

Er hat seine Erklärungen über die direkten und indirekten Steuern Deutschlands so lange wiederholt, bis die Sachverständigen der Entente


1Bd.347, S. 2562B/D
2S. 2563A
3S. 2563C

sie sich zu eigen gemacht haben und bis die deutsche Rechtspresse in der Lage war, sich auf das Gutachten der Sachverständigen der Entente berufen zu können. Ich muß sagen, daß ich die Auskünfte des Staatsekretärs Schröder über die Möglichkeit einer weiteren Anspannung der deutschen Steuern politisch für würdelos und materiell vollkommen unbegründet halte.

(Sehr richtig! links.)

Den Gegnern Deutschlands einzuflüstern, daß sie eine schärfere Anspannung der indirekten Steuern von uns verlangen können, ist und bleibt eine Würdelosigkeit. Diese Einflüsterung hat ja denn auch, wie schon bemerkt, ihren Erfolg gehabt. Sie ist eine Würdelosigkeit, die diesen Beamten zur Vertretung deutscher Interessen gegenüber dem Ausland als ungeeignet erscheinen lässt!

(Lebhafte Zustimmung links.)

Und wie steht es mit der sachlichen Fundamentierung der Auffassung des Staatssekretärs Schröders? Weiß der Herr Staatssekretär nicht, daß die erdrückende Mehrheit des deutschen Volkes empört ist über das Versagen der deutschen Besitzsteuern? Weiß er nicht, daß daß Autoritäten der Steuerpolitik von dem Fiasko der deutschen Besitzsteuern sprechen? - weiß er nicht, daß nur ein Bruchteil der Besitzsteuerpflichtigen spürbar betroffen wird, nämlich die Besitzer von Kapitalvermögen, die den Nominalwert ihres auf ein Zehntel gesunkenen Vermögenswertes mehr oder weniger ehrlich versteuert haben, daß dagegen die Besitzer landwirtschaftlicher und industrieller Werte ihre Gewinne und ihre Vermögensbestände nach dem Goldwert, die Steuern aber nach dem Papierwert berechnen? - weiß er nicht, daß niemand den Feldzug gegen die Kriegsgewinnler fideler überstanden hat als diese Kriegsgewinnler?

(Sehr wahr! Bei den Sozialdemokraten.)

Der Herr Staatssekretär Schröder hätte in Brüssel 4 auch nicht überhören sollen, was der Präsident Havenstein gesagt hat, der ausführte, daß die Tuberkulose und die Rachitis die Zukunft der deutschen Kinder bedroht. Daß in den Berliner Volksschulen 40 Prozent der Schüler kein Hemd mehr auf dem Leib haben,

(hört! hört! bei den Sozialdemokraten)

daß in Deutschland Kinderspenden gesammelt werden müssen, um die ärgste Not zu steuern. Statt sich dieser erbarmungswürdigen Volksteile anzunehmen, hat der Staatssekretär in Brüssel Rechenexempel aufgemacht über die schwere Not der deutschen Millionäre, die sich aus der Besitzbesteuerung ergebe, er hat den Sachverständigen vorgerechnet, daß ein Mann mit 10 Millionen Mark Vermögen auf einen Besitzstand von 4,5 Millionen herabgesunken sei, und daß ein Einkommen von 1,1 Millionen auf 290 000 Mark vermindert werde. Dabei sind aber die Berechnungen, auf Grund deren der Staatssekretär


4S. 2564A

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