1. Reichstag, Weimarer Republik


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gezeigt. Die deutsche Regierung trägt für diese Vorgänge die alleinige Verantwortung vor allem deshalb, weil sie glaubte, mit den gewählten Vertretern des Volkes in dieser äußerst wichtigen Angelegenheit keine Rücksprache nehmen zu müssen. In solchen Lebensfragen der Nation hätte zumindest der auswärtige Ausschuß gehört werden müssen. Meine Damen und Herren, das Ministerium zum Wiederaufbau in den verwüsteten Gebieten Frankreichs hat den Vorschlag gemacht, zunächst einmal 25.000 Holzhäuser in Nordfrankreich bauen zu lassen, um die dortige Bevölkerung aus ihren Trümmern und vermodernden Erdunterständen herauszuholen. Aber dieses Angebot ist von der französischen Seite abgelehnt worden, ebenso wie die 60.000 Baracken, die wir 1919 durch deutsche Arbeiter in Frankreich errichten lassen wollten. Die Franzosen und Belgier wollen die Sachleistungen selber erbringen. Wir werden also nicht umhin kommen, Geldleistungen zu erbringen. Es ist uns gesagt worden, daß besonders in Belgien deutsche Arbeiter zum Wiederaufbau des Landes höchst unerwünscht seien. Der Haß der Bevölkerung gegen die Deutschen sei noch zu groß, dies ganz besonders in den Gebieten, in denen heute die von deutschen Militärstellen Deportierten das Sagen haben. Es sind die Deportierten, die die deutsche Oberste Heeresleitung damals von Haus und Hof geholt hat, damit sie in den deutschen Industriestädten und in den Bergwerken für die Rüstungsindustrie arbeiten sollten. Ein Vorgehen, daß bekanntlich die ganze gesittete Welt gegen das kaiserliche Deutschland aufgebracht hat. Vor allem hat dieses Verhalten dazu geführt, daß die neutralen Staaten kaum in der Lage waren, Friedensvermittlungen zu führen. Gleich wie, müssen wir also sehen, wie wir das Geld für die zu erbringenden Reparationsleistungen aufbringen sollen, ob es Deutschland selbst gelingt oder ob wir Anleihen aufnehmen müssen. Sollten die Siegermächte jedoch auf den Pariser Forderungen der 226 Milliarden Goldmark in 42 Jahren bestehen, so sind wir Sozialdemokraten nach wie vor der Überzeugung, daß dies zu einem unfreiwilligen Dumping auf dem ganzen Weltmarkt führen muß und die größte Krise der Arbeitslosigkeit auch in den Ententeländern herbeiführen würde, eine Tatsache, durch die wahrhaftig dem Frieden der Welt nicht gedient würde. Meine Damen und Herren es muß von dieser Stelle auch einmal gesagt werden, daß es sehr schwierig ist, den Ententemächten in ihren Forderungen entgegenzutreten, wenn man die Dividendenpolitik der deutschen Industrie sieht. Daß muß zu einem Angriff der Siegermächte auf die Substanz des deutschen Besitzes führen. Ebenso die Lebenshaltung weiter Kreise des deutschen Bürgertums erweckt ein falsches Bild vom Leben des deutschen Volkes. Man ist erstaunt welche Schlüsse selbst die neutralen Mächte aus dem Vergnügungsleben des deutschen Bürgertums ziehen. Man weiß im Ausland, daß die Besitzenden, um den Steuern zu entgehen, ihre Kapitalien in Luxuswaren anlegen, weil man hierin eine sicherere Kapitalanlage sieht, als im Papiergeld. Dieses Treiben ist umso gefährlicher,2 da es auf der anderen Seite eine große Unterernährung breiter Volksschichten gibt, daß zu einem Massensterben der kleinen Kinder führt und zum Verhungern der kleinen Rentner. Aber unsere deutsche Bourgeoisie macht es heute fast ebenso, wie sie es nach der Revolution von 1848 und zu Zeiten Bismarcks gemacht hat: in erster Linie interessiert sie das Geschäft und erst in zweiter Linie die Politik.

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)


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Wenn nun die Sanktionen, die gegen uns verhängt sind, einmal den Kreis der Geschäfte stören, dann erwacht man zu politischem Leben und fängt an, feierlich zu protestieren. Und wenn ganz feierlich protestiert wird, wird an das Weltgewissen appelliert Meine Damen und Herren! Das Weltgewissen hat noch niemand gesehen. Aber ich bin überzeugt, wenn es ein Weltgewissen gäbe und wenn die Annexionisten und U-Boothelden von vorgestern, die stets den rücksichtslosen U-Bootkrieg gefordert haben, an dieses Weltgewissen appellieren würden, das Weltgewissen würde mit nichts anderem darauf reagieren als mit Brechreiz. Deshalb wäre es besser, wenn diese Herrschaften etwas mehr den Mund hielten.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und im Zentrum.)

Wenn man Deutschland zur Ruhe kommen ließe - -

(Zurufe rechts.)

- Ich habe Ihnen mehr als einmal auseinandergesetzt, Herr Graf v. Westarp, wer den Zusammenbruch Deutschlands verschuldet hat -

(Erregte Zurufe des Grafen v. Westarp: Die Sozialdemokratie! Ihr Verrat und die Revolution - Gegenrufe von den Sozialdemokraten.)

Sie (nach rechts) nutzen alles für Ihre nationalistische Agitation aus, nicht nur das Elend des deutschen Volkes sondern auch die Leiche der Kaiserin dient ihnen zu Agitationszwecken.

(Erregte Zurufe rechts. Graf Westarp: Gemeinheit! Gemeine Beschimpfung!)

Das gewaltige nationalistische Brimborium der Überführung aus den Niederlanden nach Berlin, das ganze militaristische Gehabe, mit dem die Emotionen der Bevölkerung mal wieder im nationalistischen Sinne beeinflußt werden sollten, wird auch im Ausland zur Kenntnis genommen und es schadet Deutschland enorm. Meine Damen und Herren! Ich mach darauf aufmerksam, daß, wie Briand gesagt hat, am Verfallstag, dem 1. Mai, nicht nur die Milliarden der Reparationsfrage auf der Tagesordnung stehen werden, sondern auch die Entwaffnungsfrage. Wir haben gestern erst wieder gehört, wie Briand in der französischen Kammer gesagt hat, daß er die Sicherheit Frankreichs als einziges Ziel seiner Politik ansehen würde.

(Zuruf von den Deutschnationalen: Sie betreiben hier die Sache Frankreichs!)

- Ach Herr Semmler, Sie können mir zehnmal zurufen: "Ententearbeit" und Ähnliches, das macht auf mich keinen Eindruck; denn Sie sind im Reichstage der deutschen Republik das, was im Zirkus der August ist.

(Heiterkeit bei den Sozialdemokraten. - Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Müller, diese Wendung war unparlamentarisch.


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