1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 98. Sitzung. Donnerstag den 28. April 1921.

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98. Sitzung. [i]


Donnerstag den 28. April 1921


Präsident: In der fortgesetzten Debatte hat das Wort der Herr Abgeordnete Dr. Stresemann.

Dr. Stresemann, Abgeordneter: Meine Damen und Herren!1 Der Aussprache dieser Tage ist eine sehr lebhafte Debatte über die Ausgestaltung des Parlaments bei diesen Verhandlungen vorausgegangen. Man hat der Regierung zum Vorwurf gemacht, daß sie im Namen des deutschen Volkes gesprochen, aber das deutsche Volk selbst nicht gefragt habe. Jetzt spricht das deutsche Volk durch den Mund des Reichstags in diesen Tagen. Ob aber diesen Reden im Reichstag ein zustimmendes Echo im deutschen Volksempfinden finden werden, daß kann man füglich bezweifeln.

(Sehr wahr! bei der Deutschen Volkspartei.)

Mein Fraktionskollege v. Kardorff hat neulich einmal im preußischen Abgeordnetenhause gesagt: Nie war die macht des Parlaments so groß wie in der Gegenwart, und nie war das Ansehen des Parlaments so gering wie in der Gegenwart.

(Sehr gut! bei der Deutschen Volkspartei.)

Nach diesen einleitenden Bemerkungen möchte ich mich zu der Debatte über die außenpolitische Lage selbst wenden.2 Ich darf darauf hinweisen,3 daß einer Ihrer Parteifreunde, Herr Dr. August Müller, kürzlich in einem Aufsatz auf eine Szene hingewiesen hat, die sich 1918, kurz nach der Novemberrevolution, zwischen dem einstmaligen Staatssekretär Hintze und den damaligen sechs Volksbeauftragten der Unabhängigen und Mehrheitssozialisten abgespielt hat. Der damalige Staatssekretär Hintze, den auch Ihre Freunde wegen seines Wissens und seiner Fähigkeiten sehr geschätzt haben, kam von der Besichtigung des zurückflutenden Heeres und den Eindrücken, die er dabei gesammelt hatte, nach Berlin zurück und führte den sechs Volksbeauftragten, die damals die Revolutionsregierung stellten, vor Augen, sie möchten das, was nach dem Waffenstillstand an militärischer Macht in Deutschland noch geblieben sei, unter keinen Umständen aufgeben, denn der Friede, den ein völlig machtloses Deutschland aufgezwungen bekommen würde, werde ganz furchtbar sein.

(Lebhafte Rufe rechts: Hört! Hört!)

Er hat damals nach den Ausführungen des Herrn Dr. August Müller die Antwort bekommen: "Eine sozialistische Regierung kann sich nicht auf Bajonette stützen."

(Hört! Hört! bei der Deutschen Volkspartei.)

Ich glaube, daß die Entwicklung der Verhältnisse der Auffassung Hinzes mehr Recht gegeben hat als der Auffassung, die ihm entgegengesetzt wurde.


1Bd. 349, S. 3462C
2S. 3463C
3S. 3466

Meine Herren, es sind gestern auch Angriffe gegen die Stellung hier vorgebracht worden, die die Industrie während des Krieges eingenommen habe als Anregerin wichtiger militärischer Maßnahmen. Man hat sie verantwortlich gemacht für die Stillegung der Bergwerke in Nordfrankreich, für die Zerstörung von Maschinen in Belgien. Ich weiß nicht, ob die Untersuchungs-ausschüsse, die der Reichstag eingesetzt hat, sich auch mit dieser Frage beschäftigt haben. Ich würde es begrüßen, wenn sie es täten. Das Kriegsamt - und es sind ja Mitglieder dieses hohen Hauses hier, die nicht auf der Rechten des Hauses sitzen, um darüber Auskunft zu geben - hat damals aus Schrottmangel jene Zerstörung der Maschinen veranlasst, ohne dazu gedrängt zu sein. Es ist dazu veranlasst worden durch die widerrechtliche Sperrung der Erzzufuhr, die England vornahm, obwohl Erz keine Kriegskonterbande war. Die Zerstörung der Gruben seitens der Obersten Heeresleitung erfolgte ohne irgenwelche Anregung seitens der beteiligten Industrien. Daß es gar nicht darauf ankam, diesen Akt, der ja dann geradezu verbrecherisch gewesen wäre, von dem Gesichtspunkte einer Lahmlegung der Wettbewerbsindustrie eines feindlichen Landes aus vorzunehmen, sehen Sie doch an den Vorgängen, die wir auf anderen Gebieten erlebt haben. Es wäre doch sonst nicht verständlich, daß England den Befehl gab, daß Rumänien seine Petroleumquellen vernichten musste, als die deutschen Heere vorrückten. Es wird Ihnen doch auch bekannt sein, daß Generalfeldmarschall Hindenburg Befehl gegeben hat, unsere oberschlesischen Gruben zu zerstören, wenn etwa der Russe dorthin kommen sollte. Immer sind diese Kriegsmaßnahmen in Aussicht genommen worden nicht aus privatwirtschaftlichen Rücksichten heraus, sondern weil man in einem Kampfe, der letzten Endes ein Kampf der wirtschaftlichen Kräfte war, durch Zerstörung der wirtschaftlichen Kräfte dem Gegner Hindernisse zu bereiten sucht in seinem Vorschreiten bei kriegerischen Operationen. Ob das richtig ist oder nicht, darüber mag die militärische Fachwissenschaft urteilen - ich maße mir darüber ein Urteil nicht an. Aber ich weise die Unterstellung zurück, als wenn diejenigen Beweggründe maßgebend gewesen wären, die gestern hier angeführt wurden, Beweggründe, die ebenso beleidigend sein würden gegen die führenden Persönlichkeiten der Industrie, wie noch in viel höherem Maße gegen die Führer des Heeres, wenn sie pflichtvergessen derartigen Einflüsterungen irgendwie ihr Ohr geliehen hätten.

(Sehr wahr! Rechts.)

Wir müssen darüber klar sein4 - und ich glaube, der Herr Außenminister ist ja darüber mit uns vollkommen einer Auffassung -: der Geist, aus dem dieser Vertrag von Versailles geboren ist, muß bekämpft werden. Wenn uns das nicht gelingt, dann sind alle Möglichkeiten für eine Wiederherstellung deutscher politischer und wirtschaftlicher Selbständigkeit ausgeschlossen. Ich glaube fest an die Möglichkeit einer internationalen Verständigung.5 Sie wird kommen, weil sie kommen muß.Was ihr entgegensteht, das ist die öffentliche Meinung der Länder, die im Kriege gewesen


4S. 3468B
5S. 3468D

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