1. Reichstag, Weimarer Republik


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(Lebhafte Zustimmung bei den Deutschnationalen.)

Damit würden wir an die Hilfsbereitschaft der Engländer und Italiener appellieren, die ohne unser Aufbegehren keinen Finger für uns rühren würden, wenn Deutschland sich selbst die Schlinge zuzieht, die man ihm um den Hals gelegt hat.

(Lebhafter Beifall bei den Deutschnationalen. - Erregte Zurufe bei den Sozialdemokraten und auf der äußersten Linken.)

Meine Damen und Herren! Dieser notwendige Widerstand bietet die Chance für eine sittliche Erneuerung unseres Volkes. Ohne diese Erneuerung kommen wir aus dem Sumpf, in dem wir sitzen, nicht mehr heraus. Und zu dieser sittlichen Erneuerung gehört, daß wir uns auf unsere Tugenden besinnen, die Tugend der Wahrheitsliebe. Wir müssen den Mut haben, den Alliierten die Wahrheit zusagen und die lautet: Wir können diese ungeheuerlichen Forderungen nicht erfüllen, selbst dann nicht, wenn wir wollten. Meine Damen und Herren! Mit der Unterschrift unter das Ultimatum verewigen Sie (zur Regierungsbank hin) die Versumpfung, in der wir uns befinden, und Sie verhindern durch Parteiengezänk und Uneinigkeit die Morgenröte der politischen Gesundung. Wir lehnen die Annahme des Ultimatums ab, weil es nicht nur das lebende Geschlecht, sondern auch die Kinder und Kindeskinder des deutschen Volkes zu Arbeitssklaven anderer Völker machen würde. Nur wenn wir standhaft uns zur Wehr setzen, werden wir die Freiheit wiedererlangen. Denn wir hoffen und glauben, daß der Walter der Weltgeschicke dem deutschen Volke noch eine große Aufgabe in der Welt vorbehalten hat.

(Lebhaftes Bravo bei den Deutschnationalen. Abgeordneter Keil: Es ist eine Schande, daß Sie hier reden dürfen! - Große Unruhe bei den Deutschnationalen. - Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Keil, wegen dieses ungehörigen Zwischenrufes rufe ich Sie zur Ordnung.

Hergt, Abgeordneter: Heute ist der 50jährige Jahrestag der Unterzeichnung des Frankfurter Friedens, der Tag an dem die Feder in der Hand der Franzosen besiegeln mußte, was unsere siegreiche Wehr geschaffen hatte: die Vollendung unserer nationalen Einheit. Und ausgerechnet heute unterzeichnet die neue Regierung das Ultimatum.

(Zuruf links: Wer zum Schwert greift, kommt darin um! Nur leider trift's immer die Falschen!)

Meine Damen und Herren! Wenn die heutige Mehrheit das Ultimatum unterschreibt, ist sie belastet mit dem Kainsmal der Unwahrhaftigkeit. Dann muß der andere Teil des Parlaments in Zukunft die Aufgabe übernehmen, die nationalen Kräfte des Volkes zu sammeln und zur Geltung zu bringen. Damit wir uns unser Volk sich aufrichten an dem Gedanken, daß es doch noch aufrechte Männer gibt, die ihre Meinung zu vertreten wissen.

(Lebhaftes Bravo rechts. - Große Unruhe und lärmende Zwischenrufe links.)

So sehe ich trotz alles Elends, das diese Unterzeichnung mit sich bringen wird, doch noch einen, wenn auch kleinen Schimmer der Hoffnung. Mit dieser Hoffnung


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will ich schließen, daß einmal der Tag kommt, der diesen heutigen Tag ablöst, wo Deutschland wieder durch eine andere Art der Behandlung besseren Zeiten entgegengebracht wird.

(Wiederholter stürmischer Beifall und Händeklatschen bei den Deutschnationalen und auf den Zuschauertribünen. - Große Unruhe und Zischen links.)

Präsident: Ich ersuche die Besucher der Tribüne, sich weder an den Kundgebungen des Beifalls noch des Mißfallens zu beteiligen. Die Regeln des Hauses lassen eine solche Beteiligung nicht zu. In der weiteren Debatte hat nun das Wort der Herr Abgeordnete Ledebour.

Ledebour, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! 5 Die provokatorischen Ausführungen des Vorsitzenden der Deutschnationalen nötigen mich zu einigen Erwiderungen. Auffallend an der Rede des Abgeordneten Hergt war doch seine Widersprüchlichkeit zu Oberschlesien. Auf der einen Seite hat er stets auf Oberschlesien hingewiesen und in flammenden Worten Taten verlangt - immer wieder Taten zum Schutze der deutschen Bevölkerung und später, als im Verlauf seiner Rede die rhetorischen Bedürfnisse andere Behauptungen forderten, als es um die Ablehnung des Ultimatums ging, da verlangte er die Aufgabe Oberschlesiens, da es ohnehin zur Disposition stehe und wegen der polnischen Insurgenten kaum noch zu halten sei. Wie ist das miteinander vereinbar? Wenn noch etwas notwendig gewesen wäre, um die - ich will mich milde ausdrücken - innere Unvereinbarkeit seiner Ausführungen mit der Wahrheit klar hervortreten zu lassen, so war es folgendes. Er erzählte uns von seiner Fraktion: "Als es sich um Oberschlesien handelte, haben wir uns die Frage vorgelegt, ob wir nicht Oberschlesiens wegen dem Ultimatum zustimmen sollten. "Wir" - ich habe mir die Worte sofort notiert - haben in schwerer Gewissensnot gerungen!" Das ist ein Vorgang im Fraktionsleben, den alle Fraktionen nur selten das Glück haben zu erleben, und das muß ein großartiger Augenblick gewesen sein.

(Heiterkeit links.)

Um dann später zu sagen: niemals, auch nicht in einem Augenblick, haben wir den geringsten Zweifel über unsere Haltung gehabt.

(Sehr gut! und große Heiterkeit links.)

Diese von dem Herrn Abgeordneten Hergt selbst gelieferten Widersprüche sind der beste Beweis von der inneren Unwahrhaftigkeit der ganzen Partei.

(Lebhafte Zustimmung links.)

Der Herr Abgeordnete Hergt hat dann einen Exkurs auf das moralische Gebiet gemacht.

(Zurufe links: Hergt und Moral!)

Das stand ihm nicht minder schlecht zu Gesicht, zur Geste und zu dem Ton seiner Rede. Denn wenn irgendeine Partei hier in dieser Schicksalsstunde des deutschen Volkes

(Zuruf links: Den Mund zu halten hätte!)


5S. 3637C

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