1. Reichstag, Weimarer Republik


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die Pflicht hätte, an ihre Brust zu schlagen und zu sagen: mea culpa! Herr sei uns Sündern gnädig! - so wären sie es gewesen.

(Stürmische Zustimmung links.)

Das hätte die Pflicht zur Wahrhaftigkeit von Ihnen gefordert; denn Sie waren im alten Reichstag die schlimmsten Hetzer für die Fortführung des Krieges. Sie haben vier Jahre lang durch Aufpeitschung der Emotionen die Träger der Reichsregierung zum Verderben des deutschen Volkes getrieben. Für Sie gibt es nur einen mildernden Umstand: daß ist Ihre totale politische Unfähigkeit, die Sie während des Krieges bewiesen haben und die in dem Satz gipfelte: ach die Amerikaner, sie können nicht fliegen. sie können nicht schwimmen, was schaden sie uns? Und dann haben sie Ihren rücksichtslosen U-Boot-Krieg begonnen und alles versenkt, was sich den britischen Inseln näherte. Diese totale Unfähigkeit, selbst die militärische Tragweite Ihrer verderblichen Politik zu erkennen, will ich zur Milderung Ihrer Schuld erwähnen. Meine Damen und Herren! Meine Fraktion erklärt: Die Unabhängige Sozialdemokratie ist nach eingehender Prüfung der Gesamtlage zu dem Entschluß gekommen, daß die Regierung die Bedingungen des Ultimatums vom 5. Mai unter dem Zwange der angedrohten Gewaltmaßnahmen annehmen muß. Wir haben stets den Gewaltfrieden des siegreichen Imperialismus verurteilt. Nicht minder verurteilen wir die wirtschaftlichen Forderungen des Ultimatums als schwere Schädigung sowohl für die deutsche Arbeiterschaft

(hört! hört! rechts)

wie für alle anderen Länder. Die Ablehnung der alliierten Forderungen würde jedoch dem deutschen Volk, besonders der deutschen Arbeiterschaft, sofort sicheres Unheil und verderben bringen. Nach Androhung der Entente würde die Ablehnung des Ultimatums die sofortige Besetzung des Ruhrgebiets zur Folge haben. Das bedeutet für das übrige Deutschland die Absperrung von Kohle und Stahl. Die Aushungerung der deutschen Produktion, die Brachlegung von Industriewerken und Verkehrseinrichtungen aller Art würden eine Arbeitslosigkeit von bisher nicht gekannter Ausdehnung herbeiführen und das deutsche Wirtschaftsleben völlig zerrütten. Zudem könnte uns die Entente die Ablehung des Ultimatums als Böswilligkeit auslegen und die Entscheidung über das Schicksal Oberschlesiens zu unseren Ungunsten fällen.

(Lebhafter Beifall bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Haas.

Dr. Haas, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! 6 Auch mir ist jener Widerspruch in den Worten des Abgeordneten Hergt zu Oberschlesien aufgefallen, von dem der Abgeordnete Ledebour gesprochen hat. Ich weise auf diesen Widerspruch nicht hin, um irgendwie über den Abgeordneten Hergt zu spotten oder zu höhnen. Der Hinweis ist mir nur aus anderen Gründen wichtig. Er sprach zuerst von schwerer Gewissensnot seiner Fraktion


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hinsichtlich der oberschlesischen Fragen in Verbindung mit dem Londoner Ultimatum, dann aber davon, daß man in der Haltung der Fraktion keinen Augenblick geschwankt habe. Ich muß für meine Fraktion der Deutschen Demokratischen Partei bekennen: Wir waren nicht in der glücklichen Situation, keinen Augenblick geschwankt zu haben, und wir kamen nicht zu einer einheitlichen Entscheidung. Das bekennen wir offen, und schämen uns nicht, es zu sagen,

(sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten)

daß wir verschiedener Meinung darüber sind, welche Politik die richtige wäre, ob es besser sei, das Ultimatum abzulehnen, oder ob es besser und richtiger sei, es anzunehmen. Ich glaube keiner kann sagen, welcher Weg der richtige ist. Wer will und kann soweit in die Zukunft blicken, um das beurteilen zu können? Wir können uns auf nichts verlassen nur auf unser Gefühl und unser Gewissen, und daß wir nur den lieben Gott bitten können, daß wir den richtigen Weg finden mögen. Wir haben nicht einheitlich abgestimmt. Aber unsere Stimmung war einheitlich. Könnten wir ihr allein folgen, so hätten wie das Ultimatum abgelehnt. Aber haben wir das Recht, wenn es sich darum handelt, über die Zukunft des deutschen Volkes zu entscheiden, unseren Stimmungen zu folgen? Auf uns lastet die Pflicht, die Stimmungen zurückzudrängen und kalt und nüchtern die Dinge zu sehen, wie sie wirklich liegen, und nüchtern die Entscheidung zu fällen, von der wir glauben, daß sie dem Wohl des deutschen Volkes am meisten dient. Meine Freunde und ich wissen, daß man rauschenden Beifall ernten kann, wenn man so spricht, wie der Abgeordnete Hergt heute gesprochen hat.

(Lebhafte Zustimmung bei den Deutschen Demokraten, bei den Sozialdemokraten und im Zentrum.)

Wir sind nicht einig geworden in unseren Auffassungen. Die einen sagten: was die Feinde fordern ist unerfüllbar, Unmögliches wird von uns verlangt, und wenn wir jetzt das Ultimatum annehmen, dann tritt über kurz oder lang trotzdem alles ein, was wir abwehren wollten. Und die diese Auffassung vertreten haben - ich gehöre zu ihnen -, haben weiter gesagt, es sei vielleicht die beste deutsche Politik, den anderen zu zeigen: einmal gibt es eine Grenze der deutschen Geduld, und wenn es überhaupt noch eine Rettung geben kann, so kann sie nur darin gefunden werden, daß wir die anderen zu der Erkenntnis zwingen, daß die furchtbaren Probleme, die der Weltkrieg hinterlassen hat, mit Gewalt nicht zu lösen sind.

(Sehr gut! bei den Deutschen Demokraten.)

Das war die Auffassung der einen. Die anderen sagten: es bestehen Zweifel darin, ob es nicht doch möglich sei, einige Zeit das zu leisten, was die Feinde verlangen, und vielleicht sei viel gewonnen, wenn nur etwas Zeit gewonnen werde, vielleicht bahne sich doch langsam auch bei den anderen die Erkenntnis an, daß der Weg, den man in Versailles betreten hat, nicht der richtige Weg war, um Europa wieder aufleben zu lassen, und man müsse, um Deutschland zu retten, sich diese Spanne Zeit verschaffen; damit rette man vielleicht überhaupt die deutsche Zukunft. Aber das Furchtbarste war, daß mit der Frage über Annahme oder Ablehnung des Ultimatums noch die


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