1. Reichstag Weimarer Republik


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Seite 100

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Die Regierung hätte verlangen müssen, daß sofort die gegen uns verhängten Sanktionen aufgehoben werden. Sie hat das Ultimatum unterschrieben und im Gegenzug nichts dafür erhalten. So stehen die Dinge, meine Damen und Herren. Was wir vor unseren Augen sehen, sind weltpolitische Ereignisse erster Ordnung. Wir sehen, daß Frankreich den Vernichtungswillen gegen Deutschland unerbittlich aufrechterhält., daß es immer noch auf dem Standpunkt steht, nicht die Bezahlung der Kriegsschäden an Frankreich seien die Hauptsache, sondern die Niederhaltung Deutschlands in wirtschaftlicher und politischer Beziehung. Frankreich will sich nicht damit begnügen, derzeit die größte Militärmacht in Europa zu sein, nein! Es will auch in wirtschaftlicher Beziehung die Nummer Eins in Europa werden, und dazu muß es ein Wiederaufblühen Deutschlands verhindern. Auch England ist unser Feind. Aber ich glaube nicht, daß England ein primäres Interesse an der dauernden Niederhaltung Deutschlands hat. England hat immer reine Realpolitik betrieben, niemals eine Politik der Liebe, der Freundschaft oder des Hasses,

(Zustimmung rechts)

sondern die aalglatte, aber auch kalte Politik der Wirtschaftsinteressen. Danach richtet sich alles in England. Nachdem Deutschland das Londoner Ultimatum unterschrieben hat, und Frankreich nun bekommt, was es haben will, vollzog sich ein Wandel. Nun ist das Bild ein anderes. Nun kommen wieder seine wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund. Nun ist England bemüht, daß die Kohlenschätze des Ruhrgebiets und Oberschlesiens nicht in die Hände Frankreichs fallen und dadurch die Wirtschaftsinteressen Englands auf schwerste geschädigt würden. Jetzt erwartet England von Frankreich das "fair play" Deutschland gegenüber und verlangt mehr Gerechtigkeit.

(Zuruf in der Mitte: Ärgert Sie das?)

Meine Damen und Herren! Dieses Verlangen ist rein wirtschaftlicher Natur, nicht humaner oder völkerrechtlicher Art. Nicht daß Sie glauben, der Umschwung sei nur erfolgt, weil Sie das Ultimatum unterschrieben haben. Es ist nur Englands nächster Schachzug. Und noch etwas kommt hinzu. England und Amerika haben sich darauf geeinigt, den kurzfristigen Bündnissen abzusagen und stattdessen zu langfristigem Interessensausgleich zu kommen. Nun ist Frankreich als Bündnispartner nicht mehr so wichtig, wie vorher. Und England spielt sich gegenüber der Welt als Friedensgarant auf, der dafür sorgen werde, daß Deutschland die Möglichkeit erhalte, die Bedingungen des Ultimatums gemäß der Vereinbarungen auch zu erfüllen. So liegen in Wirklichkeit die Verhältnisse bezüglich des Wandels in der englischen Politik.

(Zuruf im Zentrum: Aber das kommt uns doch entgegen! Was ist denn daran so schlecht?! Zuruf links: Die Herren Deutschnationalen lieben mehr den Großkonflikt.)

Meine Damen und Herren! Ich komme zu den Fragen wirtschaftlicher Natur. Das Londoner Ultimatum geht


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über das Diktat von Versailles noch hinaus. Und ich kann einen Mann zitieren, der heute als Wiederaufbauminister auf der Regierungsbank sitzt, der gesagt hat:3

Ein zweites Versailles. Wehe den Besiegten und doppelt wehe denen, die aus der Geschichte nicht gelernt haben. Heute steht nicht die Frage: Besetzung des Ruhrgebiets oder Nichtbesetzung, sondern Besetzung sofort oder Besetzung später.

(lebhafte Rufe bei den Deutschnationalen: Hört! Hört!)

Zwischen diesen sofort oder später liegt der Rest unserer Ehre und Existenz.

(lebhafte Rufe bei den Deutschnationalen: Hört! Hört!)

Der Rest unserer Ehre ist, daß wir halten, was wir versprechen, und nicht versprechen, was wir nicht halten können.

(lebhafte Rufe bei den Deutschnationalen: Hört! Hört!)

Der Zahlungsplan der Entente ist mit absichtlicher Sorglosigkeit geschrieben; ein Dokument der Ironie, teils bestimmt, das französische Publikum zu täuschen, teils, das deutsche. Deutschland soll zahlen, aber nicht wieder hochkommen. Je mehr es zahlt, also ausführt, desto tiefer soll es sich in Schuld verstricken.
(Hört! Hört! rechts.)
Die Forderung soll in Frankreich nach viel, in Deutschland nach wenig aussehen. Deutschland soll nie in der Lage sein, zu leisten, was es versprochen hat; es soll jedes Jahr winseln und betteln, entschuldigen und versprechen, und die anderen wollen je nach ihrer Interessenkonstellation barmherzig, schnöde, drohend oder vernichtend auftreten und das Recht zu jeder Repressalie und jeder Folter haben. Das ist unmöglich, und deshalb dürfen wir nicht unterschreiben.

(Hört! Hört! rechts.)

Der Herr, der das geschrieben hat, sitzt heute auf der Ministerbank und ist der Wiederaufbauminister, Herr Dr. Rathenau. Wir erwarten von ihm, daß er uns diesen plötzlichen Gesinnungswandel, diese völlige Umstellung seiner Meinung erläutert.

(Sehr richtig! rechts.)

Meine Damen und Herren! Das Programm des Herrn Reichskanzlers für die innere Politik war das Programm: Verständigung, Wiederaufbau und Versöhnung. Das sind schöne Worte, denen wir als Worten durchaus zustimmen können.4

(Heiterkeit links.)

Aber das Programm, das er dann entwickelt hat, hat alle diese Punkte völlig widerlegt. Er hat aufgewiesen, daß das Programm, das er verfolgen will, zu dem Gegenteil von dem führt, was er als Programmpunkte aufgestellt hat. Meine Damen und


3 S. 3735
4 S. 3736A

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