Mittwoch den 22. Februar 1922
Präsident: Wir kommen zum zweiten Gegenstand der Tagesordnung:
Dritte Beratung des Entwurfes eines Gesetzes zur Abänderung des Gesetzes über die Erhebung einer Abgabe zur Förderung des Wohnungsbaues 1
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Maretzky
Maretzky, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! Ich habe namens meiner Partei, der Deutschen Volkspartei,
folgende Erklärung abzugeben:
Die Deutsche Volkspartei erkennt an, daß die ständig steigende Wohnungsnot sofortige Hilfsmaßnahmen des Reichs, der
Länder und der Gemeinden notwendig macht. Der jährlich hinzukommende Neubedarf ist 150.000 Wohnungen; überdies aber
hat die mangelnde Instandhaltungsmöglichkeit bei den vorhandenen Wohnungen einen viel schnelleren Verfall als unter
normalen Verhältnissen zur Folge. Diese Entwicklung legt eine der bedrohlichen Seiten der wirtschaftlichen Verelendung unseres Volkes offen.
Außer der zwingenden Rücksicht auf die Wohnungsnot erfordert es die Bedeutung, die das Baugewerbe mit seinen zahlreichen
Hilfsgewerben für die allgemeine Wirtschaftslage hat, daß die drohende völlige Stillegung der Bautätigkeit verhindert wird.
Die Einführung der freien Wirtschaft in Wohn- und Mietwesen wäre geeignet, die Neubautätigkeit wieder rentabel zu
gestalten und sie zu beleben, daß ausreichend gebaut würde. Es besteht aber unter allen Sachkundigen Einigkeit darüber,
daß die sofortige Einführung der freien Wirtschaft zu einer so unerträglich hohen Mietpreissteigerung führen müsste,
das weite Kreise des Volkes, insbesondere die Kreise des Mittelstandes, der Klein- und Sozialrentner, der Beamtenschaft,
Angestellten- und Arbeiterschaft, wirtschaftlich zusammenbrechen müssten. Der durch die bisherige gesetzliche Niedrighaltung
der Mieten geschaffene Zustand, bei dem die Wohnungsmieten nur noch etwa den fünfzehnten Teil des tatsächlichen Wertes der
Friedensmiete betragen, ist im Laufe der Zeit unter der Einwirkung der drückenden Gesamtlage bis zu einem gewissen Grade zu
einer vorläufigen unentbehrlichen Voraussetzung für die
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Aufrechterhaltung der Lebenshaltung großer Schichten unseres Volkes geworden. 2
Es ist das verhängnisvolle Wirken der gegen unseren Widerspruch viel zu lange fortgesetzten Zwangswirtschaft im Wohnungsbau.
Es ist daher nur möglich, die Zwangswirtschaft allmählich abzubauen und allmählich zu jener wirtschaftlichen Regelung der
Mieten zu gelangen, die dem tatsächlichen Bauwert der Wohnungen entspricht.
Mit dem Neubau kann aber unter keinen Umständen so lange gewartet werden, bis diese allmähliche Entwicklung die Neubautätigkeit
von sich aus ins Leben ruft. Es muß sofort gebaut werden, wenn nicht das Wohnungselend in noch furchtbarerem Ausmaß als jetzt
hemmungslos über uns hereinbrechen soll.
Da vorläufig im Wege der freien Wirtschaft nicht gebaut werden kann, müssen die öffentlichen Körperschaften Baukostenzuschüsse
zur Verfügung stellen. Es bedarf keiner Hervorhebung, daß diese Baukostenzuschüsse bei der überaus ungünstigen Entwicklung
unserer Währung nicht im Wege ungedeckter Anleihen aufgebracht werden dürfen, sondern das Abgaben zur Deckung der Zuschüsse
erhoben werden müssen.
Wir erkennen an, daß es durchaus vermieden werden muß, die Zwangswirtschaft im Wohnungsbau noch weiter zu befestigen, ein
Standpunkt, der uns daher auch zur Ablehnung des Reichsmietgesetzes geführt hat; die Erhebung der im vorliegenden Gesetz
vorgeschlagenen Abgabe aber bereitet nach Auffassung eines Teils meiner Freunde den Weg zu einem allmählichen Abbau der
Höchstmieten vor und gewährt dem Vermieter die Aussicht, nach Tilgung der Baukostenzuschüsse, wieder die freie Verfügung
über den vollen Mietsertrag zu erhalten. Da ein anderer Weg zur alsbaldigen Linderung der Wohnungsnot von keiner Seite
bezeichnet werden konnte, glaubt dieser Teil meiner Parteifreunde, das Gesetz über die Erhebung einer Abgabe zur Förderung
des Wohnungsbaues annehmen zu müssen.
Der andere Teil meiner Freunde lehnt das Gesetz ab, weil diesen das Maß der durch die Abgabe ermöglichten Neubautätigkeit zu
gering erscheint, um den mit dem Gesetz verbundenen Zugriff auf den Mietsertrag rechtfertigen zu können.
(Beifall bei der Deutschen Volkspartei.)
2S.6006C
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