1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 233. Sitzung. Freitag den 23. Juni 1922

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233. Sitzung. [i]


Freitag den 23. Juni 1922


Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Helfferich

Dr. Helfferich, Abgeordneter: 1 Meine Damen und Herren! Die Tagesordnung, die seit gestern den Reichstag beschäftigt, ist ein ernstes Dokument deutscher Not. Wir haben auf dieser Tagesordnung Interpellationen, über die uns zugemutete Einstellung des Einsenbahnbaues im Rheinland, die Zerstörung von dort bereits vorhandenen Eisenbahnen; wir haben eine Interpellation über die Bedrückung unserer deutschen Brüder im Saargebiet; wir haben eine Interpellation zur Loslösung des Rheinlandes vom deutschen Reichskörper. Deutschlands ganzer Jammer muß jeden erfassen, der vorgestern die Ausführungen mit anhörte, mit denen unsere Kollegen die Tatbestände darlegten, die den verschiedenen Interpellationen zugrunde liegen. Da reihte sich ein Notschrei an den anderen, einer dringender als der andere. Da folgt eine Anklage auf die andere, eine wuchtiger als die andere. Anklagen gegen diejenigen, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Demokratie und die Völkerversöhnung als Mittel einer gleisnerischen Verführungskunst mißbrauchen und mit diesen großen Worten ungezählte Deutsche verwirren und betören, gegen diejenigen, die jetzt gegenüber dem deutschen Volke nichts kennen als schrankenlose Willkür, brutale Tyrannei, Verachtung und Haß, Vernichtungswillen und Zerstörungswut.

(Sehr richtig! bei den Deutschnationalen. - Zurufe von der äußersten Linken.)

Da trat aus allen Misshandlungen, die man uns heute ungestraft antun darf, das Bild des geachteten und gefürchteten deutschen Kaiserreichs vor unsere Augen,

(sehr gut! rechts - Unruhe und Zurufe auf der äußersten Linken)

das Glück unserer Vergangenheit und die Sehnsucht unserer Zukunft,

(lebhafter Beifall rechts - andauernde Zurufe und Widerspruch links)

das Bild des deutschen Kaiserreichs, das die Macht hatte, sein Recht zu schützen, das Bild des deutschen Kaiserreichs, das weniger als irgendein anderer großer Staat der Welt seine Macht missbraucht hat, um das Recht anderer zu beugen,

(sehr richtig! rechts; Zurufe links)

das Bild des deutschen Kaiserreichs, dessen Macht Jahrzehnte hindurch der stärkste, sicherste Hort des Friedens und gesegneter Arbeit war.

(Sehr wahr! und Bravo! Rechts. - Gegenrufe links.)


1Bd. 355, S.7988C

- Die Herren, die hier widersprechen, möchte ich doch bitten, sich etwas in die Dokumente zu vertiefen, die das Auswärtige Amt jetzt veröffentlicht hat.

(Sehr richtig! rechts.)

Diese Dokumente sind ein monumentales Denkmal des Friedenswillens Deutschlands, ein monumentales Denkmal des Friedenswillens des Mannes, von dem Sie, meine Herren (nach links) der Welt immer nur die Kürassierstiefel gezeigt haben!

(Sehr wahr! bei den Deutschnationalen.)

Sie sind ein monumentales Denkmal des Friedenswillens eines Bismarck, der turmhoch über den impotenten Friedensbewegungen steht, denen Sie heute das Wort reden.

(Zurufe links.)

Die aufrichtigen und einsichtigen Friedensfreunde der Welt hätten alle Veranlassung, Jahr für Jahr in Friedrichsruh am Grabe des Fürsten Bismarck einen Kranz von Lorbeer und Palmen niederzulegen.

(Beifall rechts, - Abgeordneter Malzahn: Sie sind wohl verrückt! - Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Malzahn, diese Zurufe sind sehr ungehörig. Ich rufe Sie deshalb zur Ordnung!

(Bravo! Rechts.)

Dr. Helfferich, Abgeordneter: Auch für die nachbismarcksche Zeit, meine Damen und Herren, steht für jeden, der Einblick in die Geschehnisse hat, der Friedenswille der deutschen Politik außer jedem Zweifel. Aus eigener Kenntnis der in der verhängnisvollen Zeit handelnden Personen möchte ich sogar sagen: Wenn wir in den Krieg - um diesen so oft gebrauchten, von Lloyd George zuerst benutzten Ausdruck zu gebrauchen - "hinein-geschlittert" sind -

(Zuruf bei den Sozialdemokraten: Zuerst von Tirpitz gebraucht!)

- Sie dürfen sich freuen, Herr Kollege Stampfer, Sie haben ausnahmsweise einmal recht, erst war es Tirpitz, dann Lloyd George und dann viele andere. - Wenn wir also tatsächlich in den Krieg "hineingeschlittert" sind, so vor allem aus dem Grund, weil Kaiser und Kanzler von dem eigenen Friedenswillen so durchdrungen waren, daß sie bei keiner anderen Persönlichkeit, die die Vorsehung die Verantwortung für die Völker in die Hand gegeben hatte, die Möglichkeit voraussetzen, daß sie aus einem verhältnismäßig geringen Anlaß diesen furchtbaren Völkerbrand entfesseln würde. Das ist der Schlüssel zu manchem Vorgang in dieser Zeit, den die Welt heute noch nicht so recht versteht.

(Erneute Zustimmung rechts.)

Aber kehren wir zurück zur Gegenwart! Wenn uns etwas aus der Vergangenheit und aus der Hoffnung für die Zukunft herausriß und wieder in die raue Gegenwart stellte, wenn uns irgend etwas die Not und das Elend der Gegenwart doppelt und dreifach fühlbar machte, dann war es das Schriftstück, das der Herr Minister des Auswärtigen in Beantwortung der Interpellationen hier vorgelesen


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