1. Reichstag, Weimarer Republik


Zurück zur Titelseite oder Zurück zur Homepage


Seite 272

A B

und sie besitzen die Stirn, zu behaupten, daß diese Gerichtsbarkeit und das heutige Recht in Deutschland terroristisch von den Sozialdemokraten gegen alles, was völkisch sei, ausgenutzt werde. Ich glaube, ausgerechnet der Abgeordneter Barth hat kein Recht dazu, sich hierher zu stellen und von Terror, den Klassenkampf in Sachsen und Thüringen zu sprechen bei den Zuständen, die sich gerade heute wieder durch ein Beispiel so drastisch gezeigt haben, als Tatsache dafür, daß heute nach wie vor in Deutschland eine Klassenjustiz vorhanden ist nicht im Sinne des Sozialismus, sondern eine Klassenjustiz genau so scharf, zum Teil noch schärfer, wie sie stets unter dem preußischen System gegen die Arbeiterschaft gewesen ist. Man gibt sich nicht mit dem zufrieden, was man inzwischen durch die Fehler der Sozialdemokratie wieder erreicht hat, sondern man möchte sich nunmehr, nachdem man sich von dem Schlage des 9. November einigermaßen wieder erholt hat, vollständig aufbauen, möchte ganz die Macht in die Hand nehmen, um das Werk durchzuführen, das man bis zum Ausbruch des Krieges noch nicht vollenden konnte, nämlich die Arbeiterschaft ganz niederzuschlagen und eine ausgesprochene Diktatur der Bourgeoisie aufzurichten Wir leben heute schon unter dieser Diktatur. Jeder Arbeiter weiß und merkt es am eigenen Leibe, und wenn Herr Wulle das auf die Einwanderung der Juden aus dem Osten zurückzuführen glaubt, so möchte ich ihm, der natürlich schnell Reißaus genommen hat, doch sagen, er soll sich die Einwanderer aus dem Osten einmal genau ansehen, die gerade im Berliner Westen die Sechs- bis Siebenzimmerwohnungen einnehmen, und er wird finden, daß sehr viele Gesinnungsgenossen von ihm darunter sind, die der russischen Konterrevolution angehören, die aus Rußland ausgewandert sind, weil dort für ihre Pläne kein fruchtbarer Boden mehr vorhanden war. Es ist doch zur Genüge erwiesen, daß gerade Wulle und seine Kreise mit diesen Leuten in engster Verbindung stehen, daß sie nicht nur in Deutschland, sondern international mit denselben Leuten zusammenarbeiten, die zum Teil auch Juden sind, deren Geld sie aber genau so in Anspruch nehmen, wie jeder Arbeiter das Geld, das er bei einem jüdischen Unternehmer verdient, anzunehmen gezwungen ist. Die Verbindung der Konterrevolution, wie sie zwischen Ungarn, Deutschland, Rußland und den anderen Staaten bestehen, zeigten sich am besten damals, als General Wrangel auf der Krim mit mitteleuropäischen Waffen und Munition versuchte, die Russen niederzuringen. Unter seinem Kommando stand ein ganzer Teil jener Leute, die heute hier im Westen Sechs- bis Siebenzimmerwohnungen innehaben, die sich dort auf Kosten der deutschen Arbeiter mästen und ein Leben in Lust und Freude führen. Diese Kreise sind es, nicht jene, die aus Armut aus dem Osten eingewandert sind, diese Kreise sind es, die, wenn ab und zu Streifen in das westliche Berlin unternommen werden, wenn ab und zu Lasterhöhlen ausgenommen werden, sich in diesen Lasterhöhlen befinden, die dort ihren Sekt und ihren Wein mit 50.000 und 100.000 Mark die Flasche bezahlen. Es ist aber - und die Arbeiterschaft hat das längst erkannt - eine ganz alte Erscheinung in der Geschichte, daß in dem Moment, wo eine Klasse, die dem Untergang


vorige

geweiht ist, auf dem Aussterbeetat steht, diese Klasse versucht, sich wieder aufzurichten, und das kann sie nur dadurch, daß sie jene Klasse, die sie als ihren Feind betrachtet, durcheinanderzuwerfen versucht, um dann nach dem Grundsatz: "Teile und herrsche" die günstigsten Ergebnisse für sich herauszuholen.

(Bravo! auf der äußersten Linken.)

Vizepräsident Dr. Bell: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Moses. 4 Dr. Moses, Abgeordneter: Meine Damen und Herren!

Unsere gesamten Etatsberatungen stehen unter dem Zeichen der Ruhrintervention. Das zeigte sich ganz besonders im Hauptausschuß bei der Beratung des Etats für das Innenministerium. Eine ganze Reihe von Problemen, die man gern an der Hand des Etats aufgerollt oder wenigstens angeschnitten hätte, mussten naturnotwendig unerörtert bleiben aus Sorge und durch Sorge für das Nächstliegende. Dieses Nächstliegende soll auch mich bei meinen jetzigen Ausführungen beschäftigen. Ich will einmal die Tribüne dieses Hauses und gerade in diesem Augenblick dazu benutzen, um gerade von ihr aus auf die großen Gefahren hinzuweisen, die einem 60-Millionen-Volk aus dem Zusammenbruch seiner Volksgesundheit drohen und nicht nur diesem Volke, sondern der ganzen Welt. Denn darüber müssen wir uns klar sein, darüber soll sich aber noch mehr die ganze Welt klar sein: daß die Auswirkungen eines katastrophalen Zusammenbruchs der Volksgesundheit bei einem Volke, die Auswirkung mit ihrem naturnotwendigen Gefolge von Seuchen aller Art, keinen Halt machen wird vor irgendwelchen Grenzen oder militärisch noch so genial ausgeführten Absperrungen. Jawohl, meine Damen und Herren: das Hungersterben im wahrsten Sinne des Wortes geht im deutschen Volk um5 ,

(sehr richtig! bei den Vereinigten Sozialdemokraten)

und wir haben nicht nur ein Recht, sondern geradezu die Pflicht, diese bittere Wahrheit jetzt in alle Welt hinauszuschreien. Nur kein Vertuschen und Beschönigen mehr. Wir dürfen nicht noch einmal wie während des Krieges im Interesse des Durchhaltens dem Volke die Wahrheit vorenthalten.

Wie liegen denn nun die Dinge bei uns in Deutschland?6 Kein Zweifel mehr, das Hungersterben geht im deutschen Volke um.

(Sehr richtig!)

Hungersterben kann im doppelten Sinne genommen werden. Ja, so im Augenblick umfallen, tot sein im Moment, das geschieht sehr selten. Aber wenn man fortdauernd im Körper eine größere Verausgabung von Kräften vornimmt, als man infolge zu schlechter Lebensweise und zu schlechter Lebensmittel wieder einsetzen kann, wenn also im Körper die Ausgabe von Kräften beständig die Einnahme übersteigt, so stirbt man auch Hungers im Laufe der Zeit. Und wie während des Krieges es zuerst die Alten und Schwachen, die Frauen


4S.9741D
5S.9742B
6S.9742D

nächste