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und Kinder gewesen sind, die infolge der Hunger-blockade den Leidenskelch bis zum bitteren Ende trinken mußten, so werden
sie auch diesmal wieder die ersten sein, die dem Hunger ihren Tribut zahlen werden. Ihm zugesellen wird sich das große Heer
der Sozialrentner, der Kriegsbeschädigten, der Invaliden und eine große Schar aus dem früheren Mittelstand, Vertreter der
geistigen Berufe, der Pensionäre, der Kleinrentner, die heute, rein wirtschaftlich genommen, schon in das Proletariat hinabgesunken sind.
Gewiß, offiziell stirbt auch heute in Deutschland niemand an Unterernährung; denn Unterernährung ist für uns Ärzte
keine staatlich konzessionierte Krankheit.
(Sehr gut! bei den Vereinigten Sozialdemokraten.)
In den Rubriken des Statistischen Amtes ist der Tod durch Hunger, Unterernährung und Verelendung nicht zu finden.
Welch namenloses Elend die Millionenstadt Berlin allein in sich birgt, dafür sprechen einige Zahlen, die der Oberbürgermeister
von Berlin, Herr Böß, am 1. Januar dieses Jahres in der Presse veröffentlicht hat. Sie müssen bei diesen Zahlen sich immer
hinzudenken, daß inzwischen selbstverständlich eine ungeheuerliche Verschlechterung eingetreten ist. Am 1. Januar wurden
in Berlin unterstützt 128.300 Kriegsbeschädigte und Alt-rentner, darunter 17.259 Schwerbeschädigte, ferner eine ständig
zunehmende Zahl Erwerbsloser.
Neben diesen Erwerbslosen, Erwerbsbeschränkten und Erwerbsunfähigen droht die größte Gefahr unserer Jugend. 40 000 Säuglinge,
119.000 Kleinkinder, 500.000 Schulkinder, dazu 65.000 Schwangere und stillende Mütter müssen von der Gemeinde Berlin
unterstützt werden! Bezeichnend ist der Rückgang des Milch-verbrauchs in Berlin von täglich 1 ½ Millionen in der
Vorkriegszeit auf heute 200.000 Liter.
(Lebhafte Rufe links und in der Mitte: Hört! Hört!)
Alle diese Schichten, die ich angeführt habe, führen heute in der Tat ein ausgesprochenes Hungerdasein, insbesondere
auch ungezählte Tausende aus den ehemals sogenannten geistig führenden Schichten des Volkes. Sie sind völlig verarmt
und stehen am Rande des Abgrunds. Tag für Tag lesen wir in den Zeitungen von Selbstmorden, Hunderte, ja Tausende von
Unglückseligen, die den entsetzlichen Qualen selber ein Ende bereiten. Schon jetzt hören wir, daß in den Irrenanstalten
in immer steigendem Maße Leute aufgenommen werden, die an Teuerungspsychose leiden, von Wahnvor-stellungen geplagt werden,
daß sie diese entsetzlichen Zustände doch nicht werden überleben können, von der Angst gefoltert werden, mit den Ihren
verhungern zu müssen.
Einige weitere Zahlen möchte ich Ihnen vor Augen führen. Sie sprechen eine beredte Sprache, wobei ich immer im Voraus
bemerke, daß diese Zahlen Ergebnisse von Untersuchungen sind, die bereits Monate zurückliegen und die deshalb auch
nicht im entferntesten ein klares Bild von den gegenwärtigen Zuständen geben. In 43 Großstädten Deutschlands sind
200.633 Kinder als tuberkulös gezählt worden,
(hört! hört!)
835 873 Kinder als schwerkrank und stark unterernährt.
(Hört! Hört!)
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Königsberg meldet, daß in den höheren Schulen 13 Prozent, in den mittleren 20 Prozent, in den Volks- und Hilfsschulen 27 Prozent
dringend speisungsbedürftig sind,
(hört! hört!)
daß die Zahl seit 1921 merklich zugenommen hat. Breslau, das durch den Zuzug von Polnisch Oberschlesien besonders schwer belastet ist,
bezeichnet 70 bis 80 Prozent der gesamten Schuljugend,
(hört! hört!)
darunter 30 bis 40 Prozent schwer und dringend als speisungsbedürftig. Selbst kleine Städte wie Prenzlau mit 22.000 Einwohnern und
vorwiegend landwirtschaftlichem Charakter nennt 36 Prozent als ganz schlecht ernährt.
(Hört! Hört!)
Nach Beendigung des Krieges 7 schien es eine kurze Zeit, als ob das Schwerste überwunden wäre, als ob die Verhältnisse bei
uns sich langsam wieder dem Niveau des Normalen nähern würden. Unsägliches hatte Deutschland durchgemacht in 4 Jahren des
Krieges und in 4 Jahren der Hungerblockade. Neben 2 Millionen Toten im Felde, also vom menschenökonomischen Standpunkt aus
betrachtet der besten, der kräftigsten, im zeugungsfähigen Alter stehenden Männer: neben diesen fiel aus der Zivilbevölkerung
an Frauen und Kindern noch eine weitere Million dem Tode zum Opfer. Ich sagte schon, es schien, als ob wir von 1918 an langsam
wieder zu gesunden beginnen. Die Tuberkulose, dieser untrügliche Gradmesser für die Gesundheit eines Volkes, begann wieder zu
sinken fast auf den Vorkriegsstand. Es war ein kurzer Traum, und nun sind wir aufgewacht und sehen uns einer entsetzlichen
Wirklichkeit gegenüber. Wir fühlen uns auf die Verhältnisse des Winters von 1916/17 zurückgeworfen, des schrecklichsten
all der Kriegswinter, jenes gräßlichen Winters, der unter dem Namen "Steckrübenwinter" in unser aller Erinnerung fortlebt.
Wir stehen, meine Damen und Herren, heute nicht nur vor einer Hungerkatastrophe, sondern sind bereits mitten drin.
(Sehr richtig! links und bei den Deutschen Demokraten.)
Das ist die niederschmetternde Wahrheit, über die uns jeder Tag mehr belehrt.
Alles das, was der Arzt als untrügliches Symptom einer Hungerkatastrophe kennt, ist vorhanden; es zeigt sich uns auf Schritt
und Tritt. Die Sterblichkeitsziffer bei den Kindern steigt wieder an, sie steigt noch mehr bei den Alten und Schwachen und
den weniger Widerstandsfähigen, sie steigert sich am meisten in den Anstalten, in den Gefängnissen, in den Irrenhäusern,
in den Waisenhäusern. Rachitis, ja, selbst Knochener-weichung bei Erwachsenen, Hungerödeme, Skorbut, jene entsetzliche
Krankheit, die seit 70 Jahren in Deutschland unbekannt war und von der Birchow bereits im Jahre 1848 gesagt, daß sie zu
den überwundenen Krankheiten in Deutschland gehört, sie sind wieder heimisch geworden bei uns, vielfach mit tödlichem
Ausgang. Die Tuberkulose nimmt wieder grauenhaften Umfang an. Im ersten Halbjahr 1922 haben wir bereits genau so viele
Fälle wie im ganzen vorausgegangenen Jahr.
7S.9743D
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