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Milch ist heute ein Luxusartikel geworden.
(Sehr wahr! links.)
700 Mark das Liter! Ja, welche Proletarierfamilie kann sich einen solchen Luxus leisten, noch dazu in einer Zeit der zunehmenden
Arbeitslosigkeit, der zunehmenden Kurzarbeit? Hunderttausende von Kindern bekommen seit Monaten keinen Tropfen Milch mehr.
Die Folgen für unseren Nachwuchs müssen katastrophaler Natur sein, zumal es im Kindesalter überhaupt keinen vollwertigen
Ersatz für Milch gibt und von sonstiger Aufnahme von Fett, als von Butter und Margarine gar keine Rede sein kann. Kein Wunder
also, daß unter den Kindern des Proletariats Rachitis, Skrofulose, Tuberkulose ihren Siegeszug halten.
(Zuruf rechts: Mittelstandskinder!)
- Ja, Herr Kollege, unter Proletarier verstehe ich selbstverständlich auch die Klasse des Mittelstandes, ja sogar die früheren
geistigen Berufe - ich habe es vorhin schon gesagt -, denen es ebenso traurig, manchmal sogar noch trauriger geht.
Meine Damen und Herren! 8 Zum Hunger gesellt sich der dringende und drängende Mangel an Wäsche und Kleidern. In den
Berliner Gemeindeschulen hat jedes zweite Kind kein Hemd zum Wechseln, jedes fünfte Kind weder Mantel noch richtige
Schuhe. In Glatz - ich bitte immer wieder daran zu denken, diese Zahlen liegen Monate zurück - besitzen von 842 Kindern
129 überhaupt kein Hemd und 466 nur ein einziges. In Sonnenberg sind von 1343 Kindern 598 ohne Schuhe und 503 hatten mangelhafte Bekleidung.
Weiter: Wenn Seife und warmes Wasser bei den teuren Gaspreisen zum unerschwinglichen Luxus wird, dann leidet selbstverständlich
die Reinlichkeit und Sauberkeit, dann schwindet jedes Gefühl für die Notwendigkeit, die Zunahme von Hauterkrankungen,
von Krätze und von Verlausung; wurden doch in einzelnen Schulen 30 Prozent aller Kinder als verlaust vorgefunden.
(Hört! Hört! links.)
Dazu der völlige Mangel an Wohnungen. Es ist uns ja vor kurzem berichtet worden, daß zwei Millionen Wohnungen in Deutschland
fehlen. Dann die überfüllten Wohnungen, die feuchten Zimmer, die zerrissenen Betten, die kaum noch den Namen Betten verdienen,
und die nicht einmal des Nachts den frierenden Kindern Wärme zuführen können. Dazu der Mangel an Leintüchern, an Handtüchern
und an Windeln. Haben wir es doch erleben müssen, daß man aus öffentlichen Gebäranstalten junge Mütter entlassen hat, mit
ihren neugeborenen in Zeitungspapier eingewickelt, weil eine andere Einwicklungsmöglichkeit nicht vorhanden war.
(Hört! Hört!)
Dazu die furchtbare wirtschaftliche und finanzielle Not, in der sich unsere Krankenanstalten, Säuglingsheime und Krippen befinden.
25 Prozent der Säuglingsheime haben bereits jetzt ihre Pforten geschlossen, 20 Prozent der Krippen. Ein großes Sterben aller
Wohlfahrtseinrichtungen beginnt und vermehrt den Schrecken des Hungers durch den Mangel an guter Versorgung der Schwachen und
Kranken. Selbst unsere Krankenkassen
8S. 9744D
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stehen ja vor der Gefahr eines völligen Zusammenbruchs in Deutschland. Wahrlich ein grauenerregendes Bild, das heute schon
das deutsche Volk darbietet, und es ist durchaus zutreffend, wenn der Herausgeber der "Daily News" auf Grund seiner persönlichen
Eindrücke, die er in Berlin über das Elend der deutschen Kinder vor einiger Zeit gesammelt hat, sagt: " es ist tragisch,
heute als deutsches Kind geboren zu sein, es ist in eine Hungerwelt hineingeboren und zu einem harten Leben".
(Hört! Hört! links.)
Meine Damen und Herren! 9 Im Herbst vorigen Jahres hat eine unserer Berliner Zeitungen sich darüber aufgeregt, daß der "Martin"
nach Gesprächen, die der Chefredakteur dieses Blattes mit den von Berlin zurückkehrenden Mitgliedern der Reparationskommission
gehabt hat, in einem ausführlichen Artikel den Eindruck schildert, den die Mitglieder dieser Reparationskommission von dem
Leben und Treiben der Großstadt Berlin empfangen haben. Es heißt darüber in diesem Artikel des "Martin":
In Deutschland leben die Leute herrlich und in Freuden. In den Luxuslokalen, wo eine Flasche Sekt 4- bis 5000 Mark kostet
- ich darf bemerken, heute kostet in den Luxuslokalen eine Flasche Sekt 60- bis 80.000, ja 100.000 Mark -
sei schwer ein Platz zu bekommen -
usw. usw. Die betreffende Zeitung nennt diesen Artikel eine Verhetzung gegen Deutschland. Ach nein, nicht solche Artikel wirken
verhetzend gegen Deutschland, sondern das Schlemmerwesen in den Großstädten muß sich im Auslande als Hetze gegen Deutschland auswirken.
(Sehr wahr! bei den Vereinigten Sozialdemokraten.)
Es ist auch nicht wahr, was die Zeitung schreibt, daß es nur ein paar deutsche Schieber seien, die Honig aus dem materiellen
Zusammenbruch Deutschlands saugen, und es ist auch nicht wahr, daß man immer nur von einer kleinen Oberschicht in Deutschland
spricht. Diese Oberschicht ist außerordentlich groß und mächtig trotz des Elends in Deutschland von Tag zu Tag. Und es ist
auch nicht wahr, daß man immer nur von Ausländern sprechen kann, die einem solchen Schlemmerleben in Deutschland huldigen.
Das ist die alte Methode, die Schuld von sich auf andere abzuwälzen. Diese Leute denken nur an die Befriedigung ihrer eigenen
primitiven Genießerinstinkte, wo Millionen in ernster Sorge und Not zum anderen leben. Sie kümmern sich den Teufel darum, wie
provozierend, wie verbitternd, wie abstoßend ein solches Treiben auf die große leidende Masse des Proletariats wirken muß.
Was kümmert diese Kreise die Wohnungsnot, was kümmert sie die Not und das Elend unserer Kinder, was kümmert sie die Tatsache,
daß Tausende und Millionen unserer Kriegsbeschädigten und Sozialrentner dem sicheren Untergange geweiht sind? Wenn sie nur
ihrem Vergnügen nachgehen können!
Leider, meine Damen und Herren, trägt unsere Presse, auch diejenige, die ernst genommen werden will, ein gerüttelt
Maß voll Schuld an diesen Zuständen, und man könnte heute, wenn man von der Not der Presse spricht, sagen: von einer
geistigen und kulturellen Not
9S.9745D
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